Das Tor zur Ewigkeit: Historischer Roman (German Edition)
der ganzen Stadt wurde von nichts anderem mehr gesprochen. Gerecht sei das Urteil, meinten die einen. Quickhands sei kein einfacher Dieb, sondern ein Wohltäter, der Milde verdient habe, behaupteten die anderen. Hingehen und zusehen aber, wie er am Strang endete, würden sie alle.
Catlin strich sich über den prallen Leib, kitzelte sich und das Kind, indem sie mit den Fingernägeln sanft über die gespannte Haut fuhr. Das Zucken ihres Bauches und das Gezappel darin entlockten ihr ein verträumtes Lächeln, das jedoch rasch wieder erstarb. Nur wenige Tage noch, dann würde man Nigel auf den Richtplatz führen, ihn vor aller Augen erniedrigen, ihn mit Kot und Steinen bewerfen. Selbst diejenigen, die ihn als Wohltäter bezeichneten, würden dem Augenblick verfallen und johlen, wenn der Henker ihm die Schlinge um den Hals legte. Catlin seufzte tief auf, nahm den kleinen Handkarren, mit dem Corvinus zuweilen loszog, und machte sich auf den Weg zum Tower. Einen ordentlichen Batzen Geld und ein Fässchen Ale hatte der Wächter dafür verlangt, sie zu Nigel vorzulassen, damit sie letzte Worte mit ihm wechseln und ihm Mut zusprechen konnte. Der Weg zum Tower dehnte sich schier endlos, denn Catlins Bauch war schwer und wurde hin und wieder so hart, dass ihr der Atem stockte. Der Karren, den sie hinter sich herzog, schlug ihr schmerzhaft gegen die Waden, sobald sie anhielt oder ihre Schritte verlangsamte. Trotzdem musste sie zu Nigel. Sie hatte lange nach einer Möglichkeit gesucht, ihn noch einmal zu sehen, bevor der Henker das Urteil vollstreckte. Darum konnte sie nun nicht mehr zurück.
Die im Wind wehenden Wimpel des Towers waren schon von Weitem zu sehen. Als erhebe sich die königliche Festung aus der Themse, so thronte sie über dem Fluss.
Dem Wachposten am Tor raunte Catlin mit bangem Gefühl das Losungswort zu. Was, wenn er sie festhielt und ausfragte oder gar fortjagte? Doch er nickte nur, brummte gleichgültig und ließ sie ein, ohne Fragen zu stellen.
Wie ein Riese ragte der Tower vor ihr empor, beeindruckend und Angst einflößend. Catlin musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um nicht auf der Stelle umzukehren. Sie zog den Handkarren hinter sich her, nahm den steilen Weg in Angriff und suchte nach dem Seiteneingang zum Tower, wo sie den Wächter finden sollte, dem Geld und Bier zu übergeben waren. Das Kopfsteinpflaster war so glitschig, dass sie zweimal beinahe ausgerutscht und gestürzt wäre. Ihr Herz raste, und ihr Leib verhärtete sich, sodass sie stehen blieb, um wieder zu Atem zu kommen. Dann sah sie das hölzerne Dach, nach dem sie Ausschau gehalten hatte, klopfte an und trat ein, als sie dazu aufgefordert wurde.
»Kann mich den Kopf kosten, meine Gutmütigkeit«, erklärte der Wachposten im Tower heuchlerisch, nachdem er das Geld eingestrichen und das Fässchen Ale verstaut hatte. »Hier entlang«, sagte er mit widerwärtig schmierigem Grinsen und entblößte eine Reihe fauliger Zähne. Dann schritt er voran und führte Catlin in den Kerker.
Die verschlungen Gänge zu den Verliesen waren dunkel, feucht und stickig, die Decken zuweilen so tief, dass Catlin den Kopf einziehen musste. Sie drückte den mitgebrachten Korb mit Proviant an sich und sah weder nach rechts noch nach links, um sich von den Schatten nicht einschüchtern zu lassen, die die Fackel des Wächters an die Wände warf. Vor einer niedrigen Holztür blieb der Mann schließlich stehen, grinste wieder und schloss auf.
Der Gestank, der Catlin aus dem Verlies entgegenschlug, verursachte ihr Übelkeit. Eine Mischung aus verfaultem Stroh, Schweiß und Exkrementen, so stechend, dass ihr die Luft wegblieb. Rasch bedeckte sie Mund und Nase mit einem Zipfel ihres Schultertuches.
»Ich hab nicht ewig Zeit«, knurrte der Wachmann. »Also schnell!« Er stieß sie in den Kerker und schlug die Tür hinter ihr zu. Als sich der Schlüssel im Schloss drehte, drohten ihr die Beine zu versagen. Was, wenn er nicht wiederkam, um sie abzuholen? Wenn er sie hier drinnen verrotten ließ? Sie hatte nichts verbrochen, doch vielleicht war schon der Versuch, Quickhands zu sehen, so etwas wie Hochverrat …
»Catlin?«, hörte sie Nigels ungläubige Stimme. Dann rasselten Ketten, und ein Mann schlurfte schwerfällig aus dem Dunkel hervor.
»Nigel!«, rief Catlin entsetzt. Er sah grauenhaft aus, gebeugt wie ein alter Mann, abgemagert und schmutzig, mit Foltermalen am Körper, einem zugeschwollenen Auge mit blutig verkrusteter Braue und einer eiternden Wunde.
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