Das Tor zur Ewigkeit: Historischer Roman (German Edition)
Seine Hände waren in fleckige Lumpen gewickelt. Gib nicht auf!, hatte sie zu ihm sagen wollen, doch im Angesicht seiner Lage kamen ihr solche Worte töricht vor. Es gab keine Hoffnung, warum sollte er da nicht verzweifeln? »Du hättest niemals stehlen dürfen«, hielt sie ihm vor, wohl wissend, dass es für Vorwürfe ebenso zu spät war wie für Reue.
Nigel antwortete nicht, nur seine Ketten rasselten, als er sich bewegte. »Wo… wo ist mein Sohn? Wer kümmert sich um ihn?« Nigel senkte schuldbewusst den Kopf. »Ich bin sein Vater, ich sollte für ihn da sein.«
»Sorg dich nicht, Nigel!« Catlin betrachtete ihn mitleidig. Er sah so elend aus, dass sich ihr Herz zusammenzog. »Wie ich hörte, hat man ihn zu den barmherzigen Schwestern von Saint Mary gebracht. Es geht ihm dort sicher gut.« Sie legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm.
Nigel nickte schniefend.
Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, nahm Catlin Kuchen, Brot und Braten aus dem Korb und reichte ihm alles.
Wie ein Tier machte sich Nigel darüber her und stopfte den Proviant so hastig in sich hinein, als würde ihm alles sogleich wieder entrissen.
Aus einer Ecke des Kerkers drang ein dumpfes Ächzen an Catlins Ohr.
»Was war das?«, fragte sie bang.
Nigel trat näher an sie heran. »Joseph«, raunte er geheimnisvoll, kaute und schluckte. »Ist schon eine Ewigkeit hier, hat seine Frau und zwei seiner vier Kinder verspeist.«
Catlin schwankte.
»Hat sie in Stücke gehackt und mit Rosinen gesotten.« Nigel flüsterte nur noch. »Wenn sie ihm die Ketten abnähmen, würde er mich wohl auch vertilgen.« Er rückte noch näher. »Manchmal träume ich, dass er mich annagt, dann schrecke ich hoch und bin erleichtert, dass es nur die Ratten sind.« Mit den Zähnen riss er ein Stück von dem Braten ab. »Gegen die habe ich einen Stein. Ich schlage sie tot, wenn sie mir zu nahe kommen. Aber gegen ihn …« Er ruckte mit dem Kopf in die Richtung, aus der das Stöhnen gekommen war. »… gegen ihn wäre ich machtlos. Er ist riesig.« Er reckte die Hand weit über den Kopf hinaus, um die Größe des Menschenfressers anzuzeigen. Dann nahm er den Rest des Bratenstücks und warf es in die Dunkelheit hinein. »Ich gebe ihm stets von dem Wenigen ab, das ich hier bekomme. Lieber ende ich am Strick als in seinem Magen«, erklärte er unheilvoll, während er auch den Kuchen verschlang.
»Ich platze noch«, sagte er zufrieden, rieb sich die Leibesmitte und verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Sein Bauch war aufgedunsen, als hätte er ein Fass verschluckt. Sieht beinahe aus wie ich, dachte Catlin belustigt und erschrak, als Nigel plötzlich laut würgte. Er übergab sich in einem Schwall, vermutlich weil er so viel Nahrung auf einmal nicht mehr gewöhnt war. Kaum hatte sich sein Magen jedoch beruhigt, verleibte er sich das Erbrochene wieder ein.
Catlin kämpfte gegen aufsteigende Übelkeit an und war dankbar, als sie den Schlüssel im Schloss hörte und der Wächter sie zum Gehen aufforderte.
»Nigel!«, rief sie.
Ihr Freund sah auf, beschämt und voller Angst. »Leb wohl«, sagte er. »Bete für mich, wenn du die nächste Glocke gießt!«
Catlin eilte auf ihn zu, hielt den Atem an und nahm ihn in die Arme.
»Aus dem Haus kann euch niemand verjagen. Es gehört dir«, flüsterte Nigel ihr ins Ohr.
Als sie ging, wandte er ihr den Rücken zu und machte sich wieder über das Erbrochene her. Catlin liefen die Tränen in Strömen über das Gesicht. Das Kind in ihrem Leib trat und schlug, während sie der Wache folgte und dem dunklen Kerker entfloh.
Wie kopflos lief sie durch die Gassen Londons zurück nach Hause. Vielleicht konnte sie ja Richard ins Vertrauen ziehen, um Nigel zu retten. Doch ihr Vetter stand dem König so nahe, und sein Gewissen war zu sehr durch die Liebe zu Mabel belastet, als dass sie ihm weitere Sorgen aufbürden konnte. Auch über Adam und Thomas als Verbündete hatte sie nachgedacht, doch weder vom einen noch vom anderen konnte sie verlangen, sich für einen Dieb zu verwenden. Darum hatte sie auch davon Abstand genommen. Wie aber sollte sie sich mit Nigels bevorstehendem Tod abfinden, ohne sich für ihn eingesetzt zu haben?
»Bist du sicher, dass du’s schaffst?«, fragte John besorgt. Catlin war so kugelrund, dass ihre Niederkunft kurz bevorstehen musste. Er hastete ihr hinterher, die Treppe hinunter.
»Ich muss!« Catlin sah ihn flehentlich an. »Ich kann nicht anders. Er ist mein Freund, ich darf ihn nicht im Stich lassen. Auch
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