Das Tor zur Ewigkeit: Historischer Roman (German Edition)
Leichnam des Gehängten war noch in derselben Nacht verschwunden. Der Dieb sei von den Toten auferstanden wie einst Jesus, meinten einige, andere behaupteten, der König habe sich den toten Leib bringen lassen und seinen Hunden zum Fraß vorgeworfen. Catlin, John und Corvinus kannten die Wahrheit. Sie nickten nur und hörten aufmerksam zu, wenn Flint wieder einmal mit einer haarsträubenden Geschichte nach Hause kam. Eines Tages behauptete er gar, der Teufel habe auch Quickhands’ Sohn geholt. Aus der Obhut der barmherzigen Schwestern, in die man ihn gegeben hatte, habe er das Kind zu nachtschlafender Zeit entführt und in die Hölle gebracht, berichtete Flint im Brustton der Überzeugung und bekreuzigte sich gleich dreimal hintereinander. Catlin schüttelte scheinbar entsetzt den Kopf und verbarg geschickt das Glücksgefühl, das sie bei dem Gedanken durchströmte, dass es Nigel offenbar geglückt war, seinen Sohn zu sich zu holen. Wer, wenn nicht Quickhands, der beste Dieb aller Zeiten, konnte schon ein Kind aus einem Kloster stehlen? »Der Teufel war es, gewiss«, sagte Catlin bestätigend, und Flint nickte zufrieden. Mit der Zeit aber gerieten die Ereignisse um den berüchtigten Dieb und das seltsame Verschwinden von Leichnam und Kind in Vergessenheit.
John war indes so selig, als wäre er tatsächlich Vater geworden. Der kräftige Schrei des Säuglings, der seitdem von Zeit zu Zeit durch das Haus hallte, wärmte sein Herz und erinnerte ihn an längst vergessene glückliche Tage. Er verschob sogar den seit einiger Zeit anstehenden Besuch in Binham. Seit der Geburt des kleinen Mädchens, das nach seiner Mutter Aedwyna genannt worden war, fühlte er sich jünger, kräftiger und lebendiger. Der Gedanke, die Kleine könne ganz nach Catlin kommen und ein ebenso gutes Ohr besitzen wie ihre Mutter, beflügelte ihn bei seiner Arbeit. Da keiner von ihnen beim Singen die Töne traf, schlug er für das Kind das Glockenspiel an, auf dass es schon früh lernen möge, welche Tonvielfalt es gab. Für Catlin und ihre Tochter wollte er die besten Glocken Englands gießen und der Werkstatt einen Ruf erarbeiten, der weit über die Grenzen des Landes hinausreichte. Auf diese Weise hoffte er, auch nach seinem Tod noch für Catlin und das Kind sorgen zu können.
Jeden freien Augenblick verbrachte er mit Aedwyna, wiegte sie in den Armen, trug sie zur Kirche, damit sie auch dort die Glocken hörte, und stellte sie in seinen Gebeten unter den Schutz des Allmächtigen.
»Sieh, Herr, ich habe Wort gehalten. Aedwyna ist nicht meine leibliche Tochter, und doch liebe ich sie, als wäre sie von meinem Fleisch und Blut. Darum erflehe ich deine Gnade für sie.« Und für ihre Mutter, fügte er im Geist hinzu, denn er hatte auch sie wie eine Tochter ins Herz geschlossen.
Kurz nach der Geburt des Kindes hatte er damit begonnen, Catlin in das Geheimnis der Glockenrippe einzuweihen, obwohl ihr siebtes Jahr noch längst nicht erreicht war. Was, wenn sie recht hatte und er womöglich zu Tode kam, bevor er sie das Wichtigste hatte lehren können?, fragte er sich immer wieder. Wie sollte sie seine Arbeit fortführen und die Gießerei am Leben erhalten, ohne selbst eine Glockenrippe fertigen zu können? Eine dunkle Ahnung und das Wissen, dass kein Leben ewig währte, trieben ihn an, sie früher als vorgesehen mit seinen geheimen Berechnungen vertraut zu machen. Nicht alle Formeln auf einmal brachte er ihr bei, sondern eine nach der anderen. Unter seiner Anleitung musste Catlin jede einzelne Berechnung so lange üben, bis ihr keine Fehler mehr unterliefen. Je mehr sie über die Entstehung der Glockenrippe wusste, desto besser konnte sie seinen Gedanken und seinem Wunsch nach Neuem folgen. Eines Tages würde es ihnen gelingen, einen dunkleren Schlagton zu erzeugen, rund und voll, laut und leise, weich und kräftig zugleich. Dass die Form der Glocke dazu verändert werden musste, verstand sie nun voll und ganz. Lange hatten Glocken einem Bienenkorb geähnelt, doch ihr Ton war blechern und kalt gewesen, geradezu asketisch, mit viel zu wenig Nachhall. John war sicher, dass Neuerungen der Form, mochten sie noch so klein sein, zu immer schöneren Klängen führen würden. Ein anderer Schwung am oberen Rand der Glocke mit einem leichten Bruch, so hoffte er, könne die Klangvielfalt erhöhen und ihn seinem Ziel näher bringen. Doch es erforderte Mut, Althergebrachtes zu verändern. Die Arbeit von vielen Wochen konnte im Nu vergebens sein. Ein wenig hatte er
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