Das Totenhaus
Überfahrt dauerte weniger als vier Minuten, und ich folgte den anderen Fahrgästen, die sich alle gut auszukennen schienen. Ein Bus wartete am Ausgang, und ich fischte einen Vierteldollar aus meiner Tasche, um den Fahrpreis zu bezahlen.
Der zweite Halt, direkt hinter dem ursprünglichen Blackwell-Farmhaus, war Main Street. Als ich ausstieg, hatte ich sofort das Gefühl, in einer Kleinstadt zu sein, Millionen von Meilen von Manhattan entfernt. Die Straßen waren kopfsteingepflastert, und zwischen der Hand voll neuer Hochhäuser stand die rote Backsteinfassade der Chapel of the Good Shepherd, der Kapelle des guten Hirten, die vor mehr als einem Jahrhundert für die Inselbewohner erbaut worden war.
Ich ging in Richtung Norden und folgte der gewundenen Straße ungefähr fünf Straßenzüge entlang bis zum Leuchtturm an der Spitze der Insel, direkt hinter dem Krankenhaus. Die Aussicht, die man von diesem Punkt aus auf Manhattan hatte, war das spektakulärste Panorama, das ich je gesehen hatte.
Es war nach neun Uhr, als ich dem Sicherheitsbeamten an der Rezeption des Coler Hospital meinen Ausweis zeigte. Er schickte mich in die psychiatrische Abteilung im ersten Stock, wo eine junge schlanke Frau in einem weißen Arztkittel auf mich wartete. »Miss Cooper? Ich bin Sandie Herron, die leitende Ärztin dieser Abteilung. Wir haben einen der Kunsthandwerksräume frei gemacht und für die heutige Anhörung hergerichtet.«
»Gut. Könnte ich mich vielleicht irgendwo in Ruhe mit dem Opfer unterhalten?«
»Ja. Deshalb bin ich hier.« Sie bat mich, ihr den Gang hinunter in ihr Büro zu folgen. »Sie werden Hilfe brauchen. Es ist schwierig, Tina zu verstehen, es sei denn, man hat eine Weile mit ihr gearbeitet.«
»Wird sie mit mir sprechen?«
»Sie werden es nicht schaffen, sie zum Schweigen zu bringen. Das Problem ist, dass ihre geistige Behinderung so stark ist, dass ich nicht glaube, dass Sie sie ohne meine Hilfe oder der Hilfe einer meiner Leute verstehen werden.«
»Was ist ihre Krankengeschichte?«
»Tina ist dreißig Jahre alt. Sie hat die meiste Zeit ihres Erwachsenenlebens hier im Krankenhaus verbracht. Sie hat einen angeborenen Gehirnschaden und eine bipolare Störung. Ihr Entwicklungsstadium entspricht dem einer Achtjährigen. Sie hat dramatische Stimmungsschwankungen, von extremen emotionalen Hochphasen bis zu abgrundtiefen Depressionen. Sie nimmt eine Reihe von Medikamenten, einschließlich Depakote und Neurontin.«
Ich versuchte, alles mitzuschreiben. »Ich habe Ihnen eine Kopie von Tinas Krankenbericht machen lassen, wo alle Medikamente verzeichnet sind. Das Problem - darf ich Sie Alex nennen? -, das Problem ist, dass ihre Artikulation und ihre Ausdrucksweise besonders unreif sind. Sie ist zu normaler verbaler Kommunikation nicht in der Lage, und vieles von dem, was sie ausdrücken will, ist für das ungeübte Ohr eines Außenstehenden unverständlich.«
»Haben Sie schon einmal bei einer Voruntersuchung ausgesagt, Doktor?«
»Über den Zustand einer Patientin, über eine Diagnose oder einen Befund?«
»Nein. Ich glaube, ich hätte Sie gerne dabei, während ich Tina frage, was passiert ist. Falls sie sich mir oder dem Richter nicht verständlich machen kann, dann hätte ich gerne, dass Sie als Dolmetscherin fungieren.«
»Das geht in Ordnung. Bringen wir sie doch her, damit Sie anfangen können.« Herron rief im Schwesternzimmer an und bat eine der Krankenschwestern, Tina in ihr Büro zu bringen. »Sie müssen eines wissen, Alex. Tina zeigt ein auffälliges Interesse an Sex. Sie ist das, was wir hier auf der Station eine chronische öffentliche Masturbatorin nennen. Wir haben ihr den Großteil des Tages jemanden als Begleitung zugeteilt, sodass sie nicht mit den anderen Patienten sexuell interagiert.«
Typisch! Was musste ich auch diese Komplikation bei einer Voruntersuchung bekommen! Im besten Fall konnte ich auf einen guten Richter hoffen, der für die Situation Verständnis hatte. Meine Zeugin würde eine unverständliche Dreißigjährige sein, mit all der sexuellen Energie und Neugier, die für eine Frau dieses Alters normal war, aber mit den mentalen Fähigkeiten eines Kindes. Das Gesetz sah sie als nicht in der Lage an, ihre Einwilligung zu einer sexuellen Handlung zu geben.
Heute musste ein guter Tag für Tina sein, die noch keinen Schimmer hatte, dass sie in Kürze einem Richter, einem Verteidiger und ihrem Angreifer in einer gerichtlichen Untersuchung gegenüberstehen würde. Sie kam an der
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