Das Totenschiff
kam gerade wieder der Beamte heran. Ich sah, daß er sein Gesicht wieder in besorgte Falten legte, und um ihm den Kummer zu sparen und ihm zu zeigen, wie sehr ich an seinen Sorgen teilnahm, sagte ich, ehe er Zeit hatte, den Mund aufzutun: »Ich glaube, ich zähle lieber noch mal nach; ich könnte mich vielleicht doch um einen oder gar zwei verzählt haben.«
Über sein sorgenvolles Gesicht huschte da ein so verklärtes Lächeln, als ob ihm jemand erzählt hätte, er bekäme in vier Wochen eine Erbschaft von fünfzigtausend Franken ausgezahlt.
»Ja, tun Sie das nur, um Gottes willen, zählen Sie lieber noch mal genau nach. Denn wenn da ein Schnipsel zu viel wäre oder eines zu wenig und der Herr Direktor würde mich zum Rapport kommandieren, ich weiß nicht, was ich da täte. Ich würde ganz sicher meinen Posten verlieren, und da sind die armen Würmer, und meine Frau ist auch nicht ganz wohlauf, und da ist noch meine alte Mutter. Oh, zählen Sie nur ganz genau hundertvierundvierzig, genau zwölf Dutzend. Vielleicht zählen Sie die Schnipselchen überhaupt dutzendweise, da können Sie sich nicht so leicht verzählen.«
An dem Tage, als ich entlassen wurde und meine Zeit abgedient hatte, hatte ich alles in allem drei Häufchen Schnipselchen gezählt. Ich weiß heute noch nicht, ob ich mich nicht doch vielleicht bei einem verzählt haben mag. Aber ich hege die stille Hoffnung, daß der treue Beamte und brave Versorger seiner Familie die drei Häufchen noch einmal zwei Wochen lang hat nachzählen lassen, so daß ich also nicht die Verantwortung zu tragen habe, wenn der Mann vielleicht doch zum Rapport kommandiert wird.
Ich bekam vierzig Centimes Arbeitslohn ausgezahlt. Eins ist sicher, wenn ich noch zweimal ohne Fahrkarte auf einer französischen Bahn fahre und erwischt werde, muß der französische Staat unweigerlich bankrott machen. Das hält kein Staat aus, auch wenn er viel günstiger dastände als Frankreich.
Das möchte ich diesem Staate auch nicht antun, und ich möchte mir auch nicht nachsagen lassen, daß ich vielleicht gar schuld sei, wenn der französische Staat seine gepumpten Gelder nicht verzinsen kann.
Darum mußte ich ’raus aus diesem Lande.
Das heißt, ich will nicht verschweigen, daß es nicht nur meine Sorge um das Wohlergehen und das geregelte Zinsenbezahlen des französischen Staates war, was mich veranlaßte, an eine beschleunigte Abreise zu denken. Bei meiner Entlassung war ich wieder einmal verwarnt worden. Diesmal sehr ernsthaft. Wäre ich innerhalb vierzehn Tagen nicht ’raus aus dem Lande, dann bekäme ich ein Jahr und Deportation nach Deutschland. Das hätte den armen Staat wieder allerlei gekostet, und ich bekam aufrichtiges Mitleid mit diesem geplagten Lande.
13.
Ich wanderte südlich, auf Pfaden, die so alt sind wie die Geschichte der europäischen Völker. Ich blieb nun bei meiner neuen Nationalität. Und wenn mich jemand fragte, sagte ich ganz trocken: »Boche.« Es nahm mir niemand übel, ich bekam überall zu essen und überall ein gutes Nachtquartier, bei jedem Bauern. Es schien, daß ich instinktiv das Richtige getroffen hatte. Niemand konnte die Amerikaner leiden. Jeder schimpfte und fluchte auf sie. Sie seien die Räuber, die aus dem Blute französischer Söhne ihre Dollar gemünzt hätten, und sie seien die Halsabschneider und Wucherer, die nun aus den Sorgen und Tränen der übriggebliebenen Väter und Mütter abermals Dollar herausmünzen wollen, weil sie nie den Rachen vollkriegen könnten, obgleich sie im Golde schon erstickten. Wenn wir nun einen hier hätten, einen von diesen amerikanischen Wucherern, wir schlügen ihn mit dem Dreschflegel tot wie einen alten Hund, weil er wahrhaftig nichts Besseres verdient.
Verflucht noch mal, da habe ich aber Glück gehabt.
»Dagegen die Boches. Gut, wir haben Krieg mit ihnen gehabt, einen ehrlichen und richtigen Krieg. Wir haben ihnen Elsaß wieder abgenommen. Da sind sie auch ganz damit einverstanden, das haben sie eingesehen. Nun aber geht es den armen Teufeln genauso dreckig wie uns. Auch die hat der amerikanische Hund am Schlafittchen und holt noch den letzten abgenagten Knochen heraus. Die verhungern ja alle, die armen Boches. Wir würden ihnen so gern etwas abgeben, aber wir haben ja selber nur noch das nackte Leben, weil der Teufel von Amerikaner uns schon das Hemd vom Leibe gezogen hat. Warum ist er überhaupt ’rübergekommen nach Europa? Uns zu helfen? Prost Mahlzeit! Um uns den letzten Faden noch vom
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