Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen
Jahren.
Unter uns zog Kanada, zogen die USA vorbei, Meere und Kontinente. War ich in diesem durch die Lüfte segelnden Ungeheuer der einzige »Zeitzeuge« jüngster mexikanischer Vergangenheit? Hatte sich vielleicht ohne mein Wissen etwas Ungreifbares und Nichtzufassendes mit mir zu dieser Reise aufgemacht? Wird es auf mich in meinem einstigen Asylland mit all seinen Lichtblicken und Schattenseiten einstürmen? In Mexiko habe ich geheiratet, in Mexiko habe ich erfahren, daß ich keine Familie mehr habe. Aus dem Freundeskreis, in dem ich dort geborgen war, lebt kaum noch jemand. In Mexiko habe ich mein Kind empfangen. Dort habe ich eine meiner ersten Erzählungen geschrieben, die dann quasi von allein durch die Welt gegangen ist und immer noch weiterlebt, die Geschichte von der Vernichtung undAusrottung des böhmischen Bergarbeiterdorfes Lidice. Wartet das alles jetzt dort auf mich?
Ich blickte durch die winzige Fensterluke des Flugzeugs in die abendlich glühende Unendlichkeit. War es nicht müßig, im voraus wissen zu wollen, was sein wird? Wie lautet doch das Körnchen Weisheit in dem klugen Witz aus Prag? Alles ist anders.
Wir landeten zeitgerecht zu früher Abendstunde. Als im Gedränge beim Aussteigen aus dem Riesenvogel der bläulich scharfe Lichtkegel eines Scheinwerfers ausgerechnet mich ins Visier nahm, rauschte verwundertes Munkeln durch die Reihen der Touristen vor, neben und hinter mir. Wer hätte das gedacht, gerade diese unscheinbare Person!
Offen gesagt, ich war nicht minder erstaunt, zugleich aber sehr erfreut. Ach lieber Gilberto Bosques, wie hatten Sie damals im Marseiller Notausgang aus Europa doch recht! In Mexiko wurde ich eben erwartet. Und da landete ich auch schon in der begrüßenden Umarmung meines Gastgebers, des Direktors des Goethe-Instituts, wurde von einer seiner Mitarbeiterinnen, einer jungen Frau namens Gabi in Empfang genommen – hatte hier von der ersten Stunde neue Freunde.
Wie machst du das, Mexiko, ging es mir am ersten Abend durch den Kopf. Hast du die Großherzigkeit von deinen in ihrer Würde unnahbaren, aber zugleich würdevoll edelmütigen Vorfahren geerbt?
Ciudad de México, die Metropole des Staates, ist in den Jahren, in denen ich sie nicht gesehen habe, eine völlig andere Stadt geworden. Vergeblich blickte ich mich nach den strohgelben Sombreros um, die »in unserer Zeit« auf den Köpfen nahezu aller Männer durch die Straßen wogten. Über den dunkelhäutigen Gesichtern,den weißen Leinenhemden und Hosen war dieser männliche Kopfschmuck ebenso schön wie die bunten Wollfäden in den pechschwarzen Haarkronen der Mädchen und Frauen. Das war nun vorbei. T-Shirts und Jeans finde ich weniger beeindruckend.
Egon Erwin Kisch hat mit seiner Frau Gisl in der Avenida Tamaulipas gewohnt; ganz nahe, sozusagen um die Ecke, hausten mein Mann, der aus Jugoslawien gebürtige Schriftsteller und Arzt Theodor Balk, und ich in der Calle Irapuato. Vorher hatten wir, nicht sozusagen sondern in der Tat, um die Ecke eine Wohnung in der Avenida Industria, in der auch das Haus von Anna Seghers stand. Hier saß sie, eine Zigarette oder gar eine Pfeife schmauchend, an ihrer Schreibmaschine, tippte die erste Version eines Buches; hier kamen neben ihren deutschen Gefährten auch ihre mexikanischen, etwa der Maler Xavier Guerrero und seine Frau Clarita, der Poet aus Chile, Pablo Neruda, der haitische Dichter Jacques Roumain und andere »bloß auf einen Sprung« vorbei. Die Seghers verstand es allerdings, sich nicht stören zu lassen. Wenn es ihr nicht paßte, war sie für niemanden da.
Gleich am ersten Morgen nach meiner zweiten Landung in Mexiko machte ich mich in Begleitung eines deutsch-mexikanischen Fernseh-Teams in diese unsere Gegend auf.
Wenn ich ein wenig die Augen schließe, um »mein« Mexiko hervorzurufen, die Stadt, in der ich mich so unbekümmert bewegt habe, als ob ich hier zu Hause wäre, in der ich morgens zur Arbeit eilte, auf dem Markt einkaufte, dabei mit den Indiofrauen ein bißchen schwatzte, zu Besuch ging oder Besuch hatte, vermeine ich abermals die Palmenreihen und blühenden Mimosenbäume zu sehen, höre »Fiores!«, den Ruf vorbeiziehender Blumenverkäufer,und die kreischenden Schreie von Truthähnen, die, gleichfalls zum Verkauf angeboten, von ihren Besitzern in größeren oder kleineren Haufen durch die Straßen getrieben wurden.
Auch das Stadtbild hat sich in der Zwischenzeit geändert. Durch ein Getümmel von erbsengrünen und zitronengelben, hupenden und
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