Das Treffen
hielt ihr die ausgestreckten Daumen hin. »Wir sind fast da!«, rief sie. »Noch fünfzehn, zwanzig Meter!«
Nickend wandte sich Cora wieder um.
Abilene langte unter sich und zog das Messer hervor. Sie lächelte.
Wir schaffen es!
Der nächsten Welle, die über sie hereinbrach, schenkte sie keine Beachtung. Sie zog die Messerscheide aus dem Bund ihres Rockes. Vorsichtig zwang sie ihre zitternden Hände, das Messer in das Lederetui zu stecken. Dann lehnte sie sich in Richtung Backbord und steckte das Messer wieder in ihren Rock.
Erst dann fiel ihr auf, dass sie bis zum Bauch im Wasser saß.
Wenn es hier schon so hoch stand …
Sie stemmte sich auf die Sitzbank. Cora legte sich noch immer tüchtig in die Riemen, aber das Boot hatte inzwischen Ähnlichkeit mit einem aufblasbaren Planschbecken. Das Wasser im Bug reichte fast bis zum Rand. Finley und Vivian knieten darin und versuchten verzweifelt, mit ihren Händen zu schöpfen.
Abilene wirbelte herum. Auch ohne das Licht des Blitzes konnte sie das Floß durch den strömenden Regen erkennen.
Wie weit noch? Fünf Meter? Zehn?
»Wir schaffen es nicht!«, rief sie Cora zu.
Cora ruderte weiter, als hätte sie nichts gehört.
Wir müssen schwimmen, dachte Abilene. Scheiße!
Sie wusste, dass sie alle selbst unter diesen Bedingungen in der Lage waren, das Floß zu erreichen. Aber Schrotflinte und Axt würden sie wohl zurücklassen müssen …
Sie musste allen überflüssigen Ballast loswerden.
Sie zog sich die Schuhe aus. Dann schnappte sie sich das Ankertau, wickelte es um ihre Taille und knotete es fest. »Durchhalten!«, rief sie und ließ sich über Bord fallen.
Sie stürzte kopfüber in den See und versuchte verzweifelt, wieder aufzutauchen. Sie war direkt neben dem Bug. Sie wandte sich um, konnte das Floß ausmachen und schwamm darauf zu. Die Wellen schlugen über ihrem Kopf zusammen und schleuderten sie hin und her. Dann spannte sich das Seil und zerrte an ihrer Hüfte.
Es war, als würde sie auf der Stelle schwimmen. Nichtsdestotrotz durchpflügte sie weiter mit Armen und Beinen das Wasser.
Sie hob den Kopf. Das hintere Ende des Floßes schien nur noch wenige Meter entfernt zu sein.
Brustschwimmend kam sie langsam näher.
Es geht vorwärts, dachte sie.
Mit dem Boot im Schlepptau gelang es ihr, das Floß zu erreichen, das vor ihr auf den hohen Wellen trieb. Seine Plattform ragte hoch aus dem Wasser. Sie vermutete, dass es mit Ketten am Boden verankert war.
An der rechten Seite des Floßes war eine Leiter angebracht.
Abilene schwamm darauf zu.
Das Seil schnitt ihr nicht mehr so heftig in die Hüfte.
Sie schwamm am Floß entlang, bis sie eine Sprosse der Leiter packen konnte, und sah sich um.
Cora saß noch immer mitten im Boot und ruderte. Der Bootsrand befand sich nur noch wenige Zentimeter über der Oberfläche. Mit jeder Welle wurde weiteres Wasser in das sinkende Boot gespült.
Finley und Vivian waren nicht mehr an Bord.
Sie hatten sich am Heck festgeklammert und strampelten mit den Beinen – so hatten sie Abilene geholfen, das Gefährt in die richtige Richtung zu bewegen.
Cora warf einen Blick über ihre Schulter. »Festbinden!«, rief sie.
28
Die Belmore-Girls
»Auf uns«, prostete Cora den anderen zu.
»Genau, auf uns!«, riefen die anderen und ließen die Sektgläser klirren.
Es war ein warmer Juniabend. Die Abschlussprüfungen waren seit drei Tagen überstanden, und es war ihre letzte Nacht in der gemeinsamen Wohnung in der Spring Street.
Morgen würden Abilene und Harris nach Portland aufbrechen, wo sie sich eine Wohnung suchen und Abilene an ihrem Doktor in englischer Literatur arbeiten wollte. Helen kehrte nach Coos Bay zurück, wo sie den Sommer mit ihren Eltern verbringen sollte. Cora und Tony planten, ihre Lehrerausbildung in Denver zu beenden, während es Finley und Vivian nach L. A. zog. Vivian wollte Schauspielerin und Model werden, Finley am Institut für Kreatives Kino studieren, das ihre Bewerbung aufgrund ihres Kurzfilms Speisesaal akzeptiert hatte.
Abilene nippte mit gemischten Gefühlen an ihrem Glas. So aufregend der Tapetenwechsel auch war, sie würde ihre Freundinnen schrecklich vermissen.
»Wir dürfen uns auf keinen Fall aus den Augen verlieren«, sagte sie.
»Genau«, stimmte Helen ihr zu. »Ihr seid die besten Freundinnen, die ich je hatte. Ich weiß nicht, was ich ohne euch tun soll …« Ihre Stimme versagte.
Abilene drückte ihre Schulter. »Das kriegst du schon hin«, sagte sie.
»Ihr werdet mir
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