Das Turmzimmer
Buchdruckerei A. Rasmussen mahnte zum vierten Mal Antonia von Liljenholms neues Manuskript Eine Handvoll Orkane an, das angeblich am 1. Juli zum Druck hätte geliefert werden sollen. Offenbar war es bisher noch nie passiert, dass ihre Manuskripte verspätet kamen, und ich hatte eine einleuchtende Idee, warum das jetzt der Fall war. Das Manuskript musste zweifellos in meiner unmittelbaren Nähe liegen. Ich suchte abwechselnd mit der einen und dann mit der anderen Hand, während sich langsam eine Angst in mir ausbreitete. Sie ließ mich aufstehen und weitersuchen, als Frau Hansen draußen in der Diele mit Simon beschäftigt war. Er nannte mit erregter Stimme meinen Namen, mehrmals sogar. Ganz hinten in einer der Schubladen, die sich nicht schließen ließen, lag ein herzförmiges Schmuckkästchen.
»Du sollst es versprechen!«, wiederholte er, gefolgt von einem langen Murmeln, während ich ein paar von Frau Hansens Diamantringen in meine rechte Hosentasche gleiten ließ. Das ist nichts, worauf ich heute stolz bin, das versichere ich Ihnen, aber damals war es reine Routine. Mein neues, besseres Leben war ohnehin gescheitert, und mir blieb nur mein mir allzu bekanntes. Frau Hansen würde wohl kaum bei der Polizei Anzeige gegen mich erstatten aus Angst, was ich ihnen über ihren geliebten Mann erzählen könnte, und außerdem hätte ich noch sehr viel mehr Diamantringe mitgehen lassen können, als ich es tat, überlegte ich. Eigentlich müsste sie mir dankbar sein. Die Stimmen draußen wurden lauter.
»Das kannst du einfach nicht ernst meinen, Simon! Du weißt nicht, was du sagst!«
»Du sollst es versprechen! Sonst …«
Irgendetwas zerbrach mit einem trockenen, knirschenden Laut. Meine Hände durchsuchten so schnell die Papierstapel, dass selbst Ambrosius beeindruckt gewesen wäre. Die eine Hand blätterte die Seiten um, während die andere auf ihrem Platz lag. Und als das Gemurmel erneut erklang, war ich mir so gut wie sicher: Eine Handvoll Orkane war nicht hier. Zum ersten Mal hatte Antonia von Liljenholm ein Manuskript nicht rechtzeitig abgeliefert, und das konnte natürlich nur bedeuten, dass sie die Zügel gelockert und beschlossen hatte, ihren Ruhestand zu genießen. Es musste nichts anderes bedeuten, aber …
»Simon!«
Jetzt spielte sich die Meinungsverschiedenheit direkt vor meiner Tür ab. Ich spannte schnell eine neue Seite ein und ließ die Buchstaben ihren Weg in der richtigen Reihenfolge auf das Papier finden. Das fehlende Manuskript musste nichts zu bedeuten haben, doch meine Zähne klapperten bereits, wie ich sie noch nie hatte klappern hören. Meine Finger wurden langsamer. Da war ein großes Gut mit Namen Liljenholm, und da waren zwei Schwestern, die von Anfang an ungleich gewesen waren. Die eine hatte in der Regel Glück, doch die letzten zweiundzwanzig Jahre war sie im Turmzimmer eingesperrt gewesen. Die andere hatte in einer fernen Vergangenheit Pech gehabt, und jetzt hatte sie es wieder. Ein Manuskript, das sie nicht fertigstellen, eine Grabstätte, um die sie sich nicht kümmern konnte, keinen Besuch in den letzten zwanzig Jahren und das Essen und Trinken, das sie nicht länger zu ihrer Schwester ins Turmzimmer hochtragen konnte … Wenn Lily ernsthaft erkrankt war, todkrank war, wenn sie deshalb Eine Handvoll Orkane nicht abgeliefert hatte, war Antonia im Turmzimmer in Lebensgefahr, und es gab niemanden, der ihr helfen konnte. Denn niemand wusste, dass sie noch lebte. Niemand bis auf Lauritsen, die tot, und Simon, der dement war, und ihre Schwester, die sie zweifellos lieber tot sah, als dass das Geheimnis gelüftet wurde. War das der Ausgang, den Simon in seinen wenigen klaren Stunden fürchtete?
Eine Tür knallte. Simons Tür, soweit ich das hören konnte. Selbst die Luft schien den Atem anzuhalten. Ich sah mich gezwungen aufzustehen und das Fenster zu öffnen, nicht zuletzt um mir eine schwarze Kiste, die auf der Fensterbank stand, genauer anzusehen. Doch im nächsten Moment riss Frau Hansen die Tür zum Arbeitszimmer auf. Sie hatte die Arme bereits verschränkt, die Finger trommelten auf den hellroten Blusenstoff.
»Sie schreiben nicht?«
»Nein, ich öffne das Fenster. Das ist doch wohl erlaubt?«
Der Wind fuhr ganz unschuldig in mein bei Weitem nicht so unschuldiges Haar. Frau Hansen ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Zuerst zu der weißgeblümten Wand um das Fenster hin, dann zum Schreibtisch. Sie schien nicht zu bemerken, dass die Briefe der Buchdruckerei A. Rasmussen
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