Das Turmzimmer
war noch kürzer. Es gelang ihm nämlich erst gar nicht, sich überhaupt eine ehrliche, redliche und alltägliche Arbeit zu beschaffen, weshalb sein Geldbeutel noch leerer war als sonst. Nicht zuletzt auch, weil zu derselben Zeit seine Spielleidenschaft mit dem damit einhergehenden Pech mit ihm durchging.
»Und was machen wir, wenn diese Nella auf Liljenholm herumläuft, ohne zu begreifen, dass ihre richtige Mutter in Lebensgefahr schwebt?«, fragte ich Marguerite an dem Abend in der Silhouette, an dem wir unseren Schlachtplan entwarfen. Er schloss ausnahmsweise übrigens nicht mit ein, dass wir Nella auch nur um ein Zehnørestück erleichtern würden, wenn sie endlich das Haus in der Hedebygade verließ. Das sagt wohl auch das eine oder andere über unsere Grenzen aus. Während Marguerite nachdachte, lächelte mich ihre Stirn mit den nach oben zeigenden Falten an.
»Du fährst mit ihr mit«, sagte sie, und ich glaube kaum, dass ich zurückgelächelt habe.
»Ich fahre mit ihr mit?«
Sie nickte. Ihre Stirn lächelte mich weiter an.
»Ohne dass sie das weiß?«
»Ja, natürlich«, nickte Marguerite. »Sie wird das erst herausfinden, wenn du in Liljenholm vorbeischaust und dich nach ihrem und ihrer Mutter Wohlbefinden erkundigst … und wie soll ich sagen … so ganz nebenbei nach den Gespenstern im Turmzimmer fragst, nicht?«
Mein Albtraum beginnt
Im Grunde genommen war der Plan von Ambrosius und mir ganz ausgezeichnet, wenn ich das einmal so sagen darf. Wir waren nur weit davon entfernt, alle Eventualitäten einkalkuliert zu haben. So machte es zum Beispiel einen größeren Unterschied als erwartet, dass es nicht um einen unserer üblichen Besuche ging, wie wir sie zu nennen pflegten. Natürlich übernahm ich das Aufsetzen des Telegramms und Ambrosius dessen Auslieferung, doch meine wohltätige Assistenz vor Ort war streng genommen überflüssig. Ich begleitete ihn in die Hedebygade, das ist klar. Ich wollte schließlich ein Gesicht mit Nella verbinden können, wenn wir uns bald begegnen sollten. Doch der Regen an diesem Tag war wie ein undurchdringlicher Vorhang, und von dort, wo ich an das Gebäude gegenüber gelehnt, halbverdeckt von einem Erker stand, sah ich nur einen undeutlichen Umriss von ihr. Hätte ich zusammen mit Ambrosius bis zum nächsten Morgen ausgeharrt, an dem die Sonne sich zumindest für ein paar Stunden zeigte, hätte ich ihr Gesicht zweifelsfrei zu sehen bekommen, denn sie lief eine ganze Stunde in der Nachbarschaft herum, um die wenig gewürdigte Schachtel Schokolade für Antonia zu kaufen. Da meine Assistenz jedoch nicht erforderlich war, ging ich gegen Mitternacht nach Hause in die Pension, um zu schlafen.
Es wurde ein teuer erkaufter Schönheitsschlaf! Er ließ mich zum Beispiel nicht einmal ahnen, dass Nella mir im Zug nach Südseeland gegenübersaß. Ich reichte ihr mein Taschentuch nur, weil sie weinte. Und währenddessen dachte ich, dass sie zweifellos eins dieser törichten Mädchen war, das sich in Schwierigkeiten gebracht hatte und jetzt auf dem Weg zu seinen entfernten Verwandten war, bevor man etwas sehen konnte. Sie sah wie eine von ihnen aus. Sehr helle Haut, ordentlich geschrubbt. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass die Jungfräulichen meist die Schlimmsten waren, und sie errötete zudem noch, als ich sie schmachtend ansah. Ich hatte eine Vorliebe für Frauen, die gerade ehrbar und liederlich genug waren, dass sie mir in die Augen zu sehen wagten, so wie sie es tat. Zwar gehörte das Kind, das sie zweifellos erwartete, nicht zu meinen Zukunftsplänen, doch andererseits hatte ich keine Zukunftspläne, die sich nicht zum Besseren hin ändern ließen. Als ich ihr zublinzelte, blinzelte sie zurück. Warum nicht?, dachte ich und verlangte das Taschentuch mit der in den Rand gestickten Telefonnummer der Pension nicht zurück. Lillemors Werk. Ich glaube nicht, dass Lillemor je durchschaut hat, warum ich mir ihre selbstbestickten Taschentücher zu Weihnachten und zum Geburtstag wünschte.
Ich brauchte ewig, um zu begreifen, dass die Frau, der ich mein Taschentuch gegeben hatte, die Nella war, wegen der ich nach Südseeland gekommen war. Wäre ich direkt nach Liljenholm gefahren, hätte ich es schneller herausgefunden, doch ich hielt mich für vorausschauend genug. Deshalb fuhr ich zunächst bei Lillemors Schwester Anna vorbei, die ungefähr fünfzehn Kilometer von Liljenholm entfernt Witwe Annas Pension betrieb. So hatte ich eine Übernachtungsmöglichkeit, wenn meine
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