Das Turmzimmer
Assistenz mehrere Tage hintereinander erforderlich sein sollte, dachte ich, doch ich hatte Annas nie stillstehendes Mundwerk nicht einkalkuliert. Nahm man noch ihren gut gedeckten Mittagstisch hinzu, den vorzubereiten sie den ganzen Vormittag gebraucht haben musste, war es mir völlig unmöglich, vor dem Abend aufzubrechen.
Meine Fähigkeiten hinter einem Steuer waren nicht gerade die besten, doch das wusste Tante Anna nicht. Denn dann hätte sie mir sicher nicht ihren frisch gewaschenen, hellgrauen Ford 30 anvertraut. Schon gar nicht während eines Sturms wie diesem. Das Fahrzeug setzte sich mit einem Husten in Bewegung, und so ging es auch weiter, obwohl es mir gelang, die größten Hindernisse unversehrt zu umgehen. Für die, die es mir nicht gelang, sie zu umgehen, würde jedoch die Hälfte meines Honorars von Frau Hansen für Autoreparaturen draufgehen. Innerlich kochte ich. Verdammte Landstraßen, von denen eine aussah wie die andere! Verdammte Bäume, die mir im Weg standen! Die Trauerweide vor meiner Stoßstange starrte mich böse an.
»Wo bin ich? WO BIN ICH, ICH IDIOT ?«
Die Trauerweide hatte Ähnlichkeit mit einem nassen Hund, der geschoren und frisiert werden musste, ich setzte zurück und drehte und wendete das Fahrzeug nach bestem Vermögen. Dass meine Augen schon bessere Tage gesehen hatten, machte es nicht besser, vor allem in der Dämmerung, doch hinter einem Hügel erkannte ich schließlich ein paar mit Grünspan überzogene spitze Türme. Der eine etwas höher als der andere, beide in dicken Nebel gehüllt. Die Türme verschwanden und tauchten wieder auf, als ich allmählich näher kam und in eine lange Lindenallee einbog. Ich stutzte. Ich war wohl davon ausgegangen, Liljenholm sei ein majestätisches Schloss und kein großer, verfallener Kasten von einem Gut. Außerdem hatte ich es als selbstverständlich angesehen, eingelassen zu werden, doch als ich mein Ziel erreicht hatte und die Klingel drückte, tat sich absolut nichts.
Stellen Sie sich das einmal vor! Liljenholm war zehnmal so groß wie alle Häuser, die ich bisher gesehen hatte, selbst anlässlich meiner Arbeit. Das rote Mauerwerk würdigte mich keines Blicks. Die Fenster im Erdgeschoss waren so hoch, dass ich nicht hineinsehen konnte, selbst wenn ich hochsprang. Der bereits damals von Pflanzen überwucherte Eingangsbereich wurde von zwei mit Moos bewachsenen Steinstatuen flankiert. Brüllende Löwen mit aufgerissenen Mäulern, stellte ich fest. Sie passten ausgezeichnet zu der Tür, die jedes Mal, wenn ich versuchte, sie aufzutreten, zu brüllen schien: Mach, dass du wegkommst . Der Park musste früher einmal mit riesigen Blumenrabatten und Rasenflächen angelegt worden sein, doch inzwischen war er längst mit dem angrenzenden Wald verwachsen. Mitten in der Wildnis erahnte ich ein paar alte Tulpenbeete und eine Reihe Eibenbäume, die den Resten eines Wegenetzes zu folgen schienen. Doch ich fand keinen zweiten Eingang.
Das Unwetter nahm an Stärke zu, und ich setzte mich ins Auto. Ich wartete. Ein paar Stunden nach Mitternacht klingelte ich noch einmal, und als das Ergebnis sich von dem vorherigen nicht unterschied, drehte ich eine letzte Runde durch den Park. Der Sturm war zwar nicht vollständig abgeflaut, aber schwächer geworden, sonst hätte ich es auch kaum gewagt, mich dem Brennholzstapel zu nähern, der an der nächsten Mauer aufeinandergeschichtet war. Zufälligerweise war es die Außenwand der Teestube, doch das konnte ich nicht erkennen. Zum einen war es stockdunkel dort drinnen, und zum anderen war der Brennholzstapel zu niedrig. Ich musste springen, um überhaupt über den Fensterrahmen blicken zu können, und als der Brennholzstapel umzukippen drohte, sah ich mich gezwungen, mein Vorhaben aufzugeben.
Doch dort drinnen, auf der anderen Seite des Glases, stand Nella (die mich für ein Reh gehalten hat! Ha!). Ich habe mich natürlich gefragt, ob es etwas geändert hätte, wenn wir uns dort schon begegnet wären. Wenn ich noch etwas länger vor dem Gut stehen geblieben oder wenn Nella mir nachgelaufen wäre. Tatsache ist jedoch, dass nichts davon geschah.
Dafür passierte etwas anderes, und eigentlich weiß ich nicht, ob ich es erwähnen soll oder nicht. Meine Nachtsicht lässt trotz allem so zu wünschen übrig, dass sie mir durchaus einen Streich gespielt haben könnte, doch als ich das Auto erreicht hatte und mich ein letztes Mal umdrehte, sah ich etwas mitten im Eingangsbereich. Es hatte deutliche Ähnlichkeit mit
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