Das Turmzimmer
Kirchenbücher. Niemand kann sich einen Begriff davon machen, wie viele ich in dem schlecht beleuchteten Lesesaal durchgeackert habe. Gar nicht davon zu reden, wie nervtötend es war, eine penible Schrift nach der anderen zu entziffern, oder wie traurig, in derselben alten Eintragungsreihenfolge herumzusuchen wie am Vortag. Geborene Jungen, geborene Mädchen, konfirmierte Jungen, konfirmierte Mädchen, Trauungen (Geburten und Todesfälle), tote Männer, tote Frauen.
Lassen Sie mich gerade noch erwähnen, dass ich nicht in meiner eigenen Familiengeschichte geforscht habe. Es passierte zwar, dass ich mir die Freiheit nahm, einen kleinen Blick über die Spalten gleiten zu lassen. Doch in der Welt der Kirchenbücher ist man ein Nichts ohne seinen Geburtsort und seinen Geburtsnamen, sodass ich mich täglich in einer Welt aufhielt, in der ich nicht existierte. Man kann es wohl nur als einen offensichtlichen Beweis für die Ironie des Schicksals bezeichnen, dass ich, die ich absolut nichts über meine leibliche Familie wusste, damit endete, mich eingehendst mit den Familienverhältnissen anderer Leute zu beschäftigen. Doch so war die Arbeitsteilung nun einmal. Ambrosius hielt nach möglichen Objekten Ausschau, wie wir sie nannten. Das hieß nach Familien in Kopenhagens besseren Gegenden, die über Generationen hinweg reichlich Wertgegenstände angesammelt hatten. Je älter die Objekte waren und je weniger Bedienstete für sie arbeiteten, desto geeigneter waren sie. Die Chance war dann nämlich größer, dass ein Telegramm bezüglich einer plötzlich ausgebrochenen Krankheit des Sohns oder der Tochter oder eines nahen Verwandten alle Bewohner fluchtartig und ohne vorher zu telefonieren die Wohnung verlassen ließ und, nun ja, dieselbige unseren langen, aber vorsichtigen Fingern überlassen blieb, wenn denn die ganze Wahrheit auf den Tisch soll.
Meine Aufgabe bestand darin, die nahen Verwandten ausfindig zu machen und Telegramme auf naturgetreuen Formularen zu verfassen. Ambrosius’ Aufgabe bestand darin, die Formulare in voller Amtstracht auszuliefern und mich hinzuzurufen, sobald die bekümmerten Seelen das Haus verlassen hatten. Vielleicht ist es ein wenig zu weit hergeholt, in diesem Zusammenhang von der Wohltätigkeitsbranche zu sprechen, doch damals war ich nun einmal der Ansicht, dass unsere Arbeit damit verwandt war. Mit ein wenig gutem Willen, nicht wahr? Wir erleichterten die Leute schließlich um ihren hässlichen Schmuck und ihr ebenso hässliches Silber und was wir sonst noch in Taschen und Beutel stecken konnten, und wir taten es mit Respekt. Im Gegensatz zu gemeinen Dieben übrigens. Es war absolut nicht unser Stil, Wohnungen so auf den Kopf zu stellen, dass die Leute ein Chaos empfing, wenn sie nach Hause kamen. Und außerdem: Wenn die Leute bei ihren ernsthaft erkrankten Familienmitgliedern eintrafen und feststellten, dass diese wie die Eichhörnchen herumsprangen, war die Erleichterung zweifellos äußerst wohltuend. Etwas ganz anderes wäre es gewesen, hätten wir in den Telegrammen geschrieben, dass jemand gestorben sei, denn hier verlief unsere Grenze. Wir wünschten ganz bestimmt niemandem den Tod. Außerdem hofften wir, dass die Leute verstanden, dass es sich um eine Notsituation handelte.
Doch nicht alle verstanden das gleichermaßen. Als ich für Simon und Frau Hansen arbeitete, hatte eine Familie mit dem unheilschwangeren Namen Krogh-Jensen uns beispielsweise gerade bei der Ordnungsmacht angezeigt. Meiner unmaßgeblichen Meinung nach hätte die Familie eigentlich erleichtert sein müssen, dass ihre älteste Tochter, Signe-Marie, bei bester Gesundheit war, doch stattdessen mussten sie unbedingt darauf herumreiten, dass wir ihren geerbten Schmuck gestohlen hatten. Nun gut, die Ordnungsmacht hatte begonnen, gewisse Parallelen zwischen den Diebstählen und uns zu ziehen. Möglicherweise, weil durchaus bekannt war, dass Ambrosius auf eine glorreiche Vergangenheit als tüchtiger Trickdieb in der Ankunfts- und Abfahrtshalle des Hauptbahnhofs zurückblicken konnte, während ich mich bereits für eine Reihe von Dokumentenfälschungen verantwortlich gezeichnet hatte.
Doch halten wir uns damit nicht auf, sondern stellen wir einfach nur fest, dass Ambrosius und ich überzeugende Tarngeschichten brauchten, und zwar am besten solche, die auch einen guten Teil der Vergangenheit miteinbezogen. Meine Tarngeschichte mit Simon und Frau Hansen war sozusagen nur eine Kurzgeschichte geworden und die von Ambrosius
Weitere Kostenlose Bücher