Das Turmzimmer
Frage, sodass wir so schnell wie möglich zur Sache kommen konnten. »Lebt Antonia noch?«
Und Nellas Antwort beunruhigte mich.
»Kommen Sie«, sagte sie. Eigentlich wunderte es mich nicht, dass sie es einer Wildfremden gestattete, ihr durch die Zimmer von Liljenholm zu folgen. Sie hätten eigentlich schon damals Einspruch erheben müssen, diese Zimmer, die Besuch nie sonderlich gemocht hatten. Vielleicht haben sie es auch versucht, doch ich bemerkte nur einzelne Details. Das Licht, das schräg durch das Fenster des Vorzimmers und in einem Kegel auf den Tisch fiel, den seltsamen Sofasessel in der Teestube, die hellblauen Vasenscherben im Esszimmer, die Möbel, die zu groß wirkten, den Geruch weißer Lilien, eine Tür, die offen stand. Die Tür zu dem Arbeitszimmer, das seit knapp einem Jahr meins ist.
Das Erste, das ich hier drinnen sah, war der peinlich ordentliche Schreibtisch am Fenster mit der Schreibmaschine in der Mitte. Nella trat zur Seite. Zu einem Bett, in dem ein ausgemergelter Mensch mit auf der Decke gefalteten Händen lag.
»Mutter ist heute Morgen gestorben«, sagte sie. Das Gesicht der Frau war wie eine müde Maske in sich zusammengefallen. Ich trat näher. Nichts an ihr kam mir bekannt vor, was jedoch daran liegen mochte, dass ich sie nur geschminkt gesehen hatte. Ich versuchte, normal zu atmen. Es gelang mir nicht.
»Und was ist mit Lily?«, fragte ich. Es blieb zu lange still.
»Mit Lily? Wie meinen Sie das?«
Als sie fragte, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Nella hätte nicht so fragen dürfen. Sie fuhr sich mit einer nervösen Geste durch die Haare und murmelte, dass Lily doch seit Jahren tot war, und wer ich überhaupt sei? Was ich hier mache? Ich sah Ambrosius vor mir. Natürlich glaube ich dir, Agnes. Du hast mir nie Grund zu etwas anderem gegeben , und die Götter mochten wissen, wie sehr ich es gehasst hätte, die Wahrheit über meine Familie von einem Menschen zu erfahren, den ich überhaupt nicht kannte. Doch es gab keine Notlüge, die groß genug war, das zu verschleiern, was ich wusste, selbst wenn ich sie wie ein verdammtes Gummi streckte.
»Ich war die Sekretärin Ihres Vaters Simon«, sagte ich. »Leider nicht lange, doch lange genug, um zu wissen, dass er befürchtet hat, dass gerade … ja …«
Ich sah augenblicklich ein, dass ein feines Netz aus Lügen sehr viel schonender gewesen wäre als ein schwarzes Loch aus Wahrheit. Nellas Gesicht spaltete sich in der Mitte, als würden zwei Menschen in ihr wohnen, und der andere Mensch klang seltsam schrill. Wie ein kleines Mädchen, das nach seiner Mutter rief.
»Was in aller Welt sagen Sie da?«
»Ich habe Ihnen das Telegramm geschickt, weil ich Antonia retten wollte. Das sage ich.«
Das Starren in Nellas Augen gefiel mir ganz und gar nicht.
»Aber Antonia ist doch tot.«
Ich persönlich hatte nicht die leiseste Ahnung, was Worte bedeuten konnten, bevor ich tief durchatmete und sie korrigierte.
»Ich glaube, dass Lily dort im Bett liegt, Nella. Lily ist tot, und Antonia, Ihre richtige Mutter … ich befürchte, dass sie viele Jahre im Turmzimmer eingesperrt war. Wir müssen sie retten. Sofort.«
»Sie verlassen jetzt auf der Stelle das Haus, haben Sie das verstanden?«
Heute verstehe ich sehr gut, dass Nella sehr viel lieber an ihrer schönen, kleinen Theorie von Lily und Antonia, die in Wirklichkeit ein und dieselbe Person waren, festgehalten hätte. Doch damals verstand ich das eiskalte Nicken nicht, mit dem sie mich bedachte. Es erinnerte mich ein wenig an Frau Hansen.
»Verschwinden Sie.«
Sie verschränkte die Arme und wippte auffordernd mit einem Fuß.
»Aber Antonia ist möglicherweise in Lebensgefahr. Wir können sie doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen!«
»Verschwinden Sie«, wiederholte sie und kam mir mit gebleckten Zähnen und zum Kratzen erhobenen Händen entgegen. Ich schob sie fort, ziemlich hart, befürchte ich, denn sie krachte lautstark in einen Stapel Bücher. Ich stürzte zur Tür hinaus, durch mehrere Zimmer, die breite Treppe hoch. Es wunderte mich aufrichtig, dass Nella mir bereits auf den Fersen war. Mir ging all das im Kopf herum, was schiefgehen konnte. Wenn Antonia nun niemals im Turmzimmer eingesperrt gewesen war. Wenn es nur meine Fantasie war, die mir zweifelsfrei eine Anzeige einbringen würde. Wenn ich zu lange gewartet hatte hierherzukommen. Der verdammte Ford 30. Wenn meine Fahrkünste Antonia hätten retten können. Ich blieb stehen.
Am Ende der Treppe hatte ich
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