Das Turmzimmer
von Lilys Beseitigung und Lauritsen von den Gespenstern im Turmzimmer faselte. Keiner davon gab letztlich Aufschluss darüber, wer Antonia und wer Lily war. Vielleicht stimmte die Todesanzeige ja: Lily war vor vielen Jahren gestorben, und Antonia erfreute sich bester Gesundheit. Vielleicht hatten Simon und Lily Antonia betrogen, bevor Lily sich umgebracht hatte, und vielleicht hatte der Betrug Antonia so erzürnt, dass sie Simon nie mehr in Nellas Nähe hatte sehen wollen. Der Regen draußen klang nach einem Wolkenbruch. Vor meinem inneren Auge sah ich ein schwebendes Luftschloss, das über Kopenhagen zerplatzte.
»Agnes, wo bist du mit deinen Gedanken?«
Ich sah zu Marguerite hoch. Sie war blasser als das zusammengeknüllte Tischtuch in ihren Händen.
»Ich glaube dir«, sagte sie. Zunächst verstand ich nicht ein Wort. Ich glaubte mir immerhin selbst kaum mehr. Mein Blick ruhte in ihrem. Es war bei Weitem nicht das erste Mal, dass sie mir den Glauben an mich zurückgab.
»Tust du das wirklich?«
Ihre hohen Schläfen glänzten vor Schweiß.
»Es klingt natürlich nicht so … ja, wie soll ich sagen … wahrscheinlich , dass jemand auf die Idee kommt, seine Schwester in einem Turmzimmer einzusperren und sich zweiundzwanzig Jahre für sie auszugeben. Aber andererseits …«
Sie blinzelte mir mit beiden Augen zu.
»Was in Jane Eyre passieren kann, kann auch in Wirklichkeit passieren, und außerdem erinnere ich mich noch sehr gut an damals, als du vorhergesehen hast, dass der Leopard uns verraten würde. Was habe ich gezweifelt, ob du recht hattest.«
Marguerite spielte auf unsere früher einmal so vorbildliche Zusammenarbeit mit einem Zwischenhändler an, der in der wirklichen Welt Leopold Pedersen hieß. Marguerite und mir war es gerade noch gelungen, unsere Tarngeschichten in Ordnung zu bringen, bevor er uns anzeigte.
»Wenn du ein Mann wärst, hättest du längst erfolgreich Karriere als Privatdetektiv gemacht, Agnes«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Du hättest auch diverse Bücher mit dir in der Hauptrolle schreiben können, ohne dass jemand auch nur die Stirn gerunzelt hätte.«
Ich hoffe nicht, dass Sie meine Wiedergabe von Marguerites Worten als die reinste Selbstverliebtheit auffassen, denn so sind sie nicht gemeint. Obwohl sie völlig recht hatte. Über die gute Moral will ich mich nicht zum Wächter ernennen, doch was Lügen angeht, kenne ich mich aus. Marguerite räusperte sich trocken, wie sie das gerne tat, wenn wir geschäftlich und nicht zum Vergnügen redeten.
»Ich werde dir helfen«, sagte sie. Und das Allerbeste an unserer Freundschaft war, dass wir beide wussten, was das zu bedeuten hatte.
»Wann soll ich das Telegramm ausliefern?«, fuhr sie fort. Ich ließ die Schultern hängen und seufzte.
»In einer Woche, wenn ich bis dahin nichts von Lily gehört habe. Und Marguerite …?«
Jetzt lachte sie mich aus.
»Ich weiß, was du fragen willst«, sagte sie, »und die Antwort ist Ja. Natürlich glaube ich dir, Agnes. Du hast mir nie Grund zu etwas anderem gegeben.«
Ich kann genauso gut verraten, dass Ambrosius kein Postbote war, aber man muss ihm lassen, dass er wie einer aussah, wenn er sich seine offizielle Postbotenuniform anzog. Zweifellos muss man auch mir lassen, dass ich von Zeit zu Zeit wie ein heiliges Fräulein klinge, doch die Wahrheit ist die, dass es Jahrzehnte her ist, seit ich meinen verwässerten Kinderglauben verloren habe. Ich habe es mir lediglich in Verbindung mit Ambrosius’ und meinen kleinen Geschäften angewöhnt, den Herrgott und den Kirchgang und diverse Bibelsprüche in jeden zweiten Satz einzuflechten, damit ich meine Tarngeschichte um Himmels willen nicht vergesse. Seitdem ist mir diese Ausdrucksweise zur Gewohnheit geworden, und außerdem hat sie es mir unverhältnismäßig leichter gemacht, alle davon zu überzeugen, dass ich wirklich mehrmals in der Woche in die Kirche ging und für meine kranke Tante betete. Doch die Wirklichkeit sah ganz anders aus.
Jedes Mal, wenn ich in die Kirche ging, ging ich in Wirklichkeit zu einem roten Gebäude im Jagtvej, das mit seinen meterhohen Bogenfenstern in den Himmel ragte. Kirchlich kann man es wohl kaum nennen. Es hatte eher eine auffällige Ähnlichkeit mit einem Gefängnis, und hin und wieder fühlte es sich auch so an, obwohl es für die gewöhnlichen Sterblichen bloß das Landesarchiv war. Dass es als »die Kirche« endete, war jedoch nicht ganz aus der Luft gegriffen, denn mein Arbeitsgebiet waren die
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