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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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einer großen, gebeugten Gestalt, und wenn ich mich nicht sehr irrte, machte sie mir ein Zeichen, näher zu kommen. Heute würde ich mich natürlich fragen, was in aller Welt Fräulein Lauritsen dort zu suchen hatte. Doch damals lief ich lediglich auf die Gestalt zu und rief, dass ich nicht hineinkäme, aber hinein MÜSSE und dass es wichtig sei. Doch was sollte ich tun? Anstelle einer Antwort zerfloss die Gestalt vor meinen Augen, und als ich sie erreicht hatte, sah ich ein, dass ich ins Leere sprach. Die Gestalt war wohl eine der hohen Pflanzen gewesen, die ihre Schatten warfen, dachte ich. Ohne zu überprüfen, ob die Haustür noch immer verschlossen war, fuhr ich Riesenidiot zurück in die Pension und kam erst vierzehn Stunden später wieder zurück.
    Das Auto war der Grund für meine Verspätung. Es hatte sein Aussehen, wie gesagt, leicht verändert. Ich will Ihnen das Drama ersparen, das sich seinetwegen in Witwe Annas Pension abgespielt hat, sondern nur erwähnen, dass ich den Weg nach Liljenholmm am nächsten Tag zu Fuß zurücklegen musste. Meine Schuhe drückten mich ebenso wie meine Zweifel. Ambrosius hatte an meine Theorie geglaubt, weil er keinen Grund zu etwas anderem gehabt hatte, doch was, wenn er den nun bekam? Würde er mir dann je wieder glauben? Sobald Liljenholms Türme hinter dem Hügel auftauchten, begann ich zu laufen.
    Man sagt ja, dass das Glück einem beim dritten Mal hold ist, doch was mich erwartete, als sich die Haustür öffnete, hatte absolut nichts mit Glück zu tun. Ich hatte die Klingel bereits mehrere Minuten gedrückt, ohne zu versuchen, die Tür zu öffnen, und einen Moment schien auch die Frau mir gegenüber sich zu wundern, dass sie nicht verschlossen war. Sie war kleiner und dünner, als ich sie aus dem Zug in Erinnerung hatte, doch ich zweifelte nicht daran, dass sie es war. Mein Mund öffnete und schloss sich, als hätte ich mich in einen verdammten Goldfisch verwandelt. Ihr Haar war zerzaust und ihre Haut überall dort, wo ihr Kleid zerrissen war, mit Kratzern übersät, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Und das hatte sie wohl auch. Ein lebendiges Gespenst, das in Wirklichkeit ihre Mutter war, dachte ich. Sie sah aus, als wüsste sie es. Der verstörte Blick, den sie mir zuwarf, als ich ihr die Hand zum Gruß reichte.
    »Mein Name ist Agnes Kruse.«
    Sie blinzelte mehrmals, scheinbar ohne zu ahnen, dass sie mich schon einmal gesehen hatte. Die Hand, die sie mir gab, war eiskalt und kraftlos, und sie schnitt eine Grimasse, die mich ihre Hand sofort wieder loslassen ließ.
    »Guten Abend.«
    Ihre Stimme war heiser. Ich konnte nicht aufhören ihre Hand anzustarren. Der Handrücken war voller Kratzer, und die Fingerspitzen waren offene Wunden. Sie flatterten in die Falten ihres Hemds und verschwanden. Ich musste weder mein Anliegen erklären noch ein Geständnis ablegen, bevor sie auch schon zur Seite trat. Meine Beine segelten unter mir in die Halle von Liljenholm, die mir das allgegenwärtige Gefühl gab, in einer Kapelle zu sein. Vielleicht lag es an der Decke, die sich hoch über uns wölbte und selbst unseren Atem hallen ließ. Doch ansonsten war alles vollkommen still. Viel zu still.
    »Entschuldigen Sie, dass ich mich Ihnen so aufdränge.«
    Meine Schritte knirschten auf zerbrochenem Glas, das einmal an der Wand gehangen und die lackierte Kommode unter dem Spiegel verschönert haben musste. Nella war mitten in der Halle stehen geblieben. Ihre Arme hingen schlapp an den Seiten herunter.
    »Passen Sie auf Ihre Füße auf.«
    Man könnte behaupten, dass ihr der Gedanke, mich zu warnen, etwas spät kam, da ich bereits mitten in den Scherben stand. Doch die Geste wärmte mich innerlich. Es war schon banal, dass nicht mehr als ein wenig Freundlichkeit dazu nötig war. Ich kniff schnell die Augen zusammen. In der Ecke führten ein paar Stufen zu einer Tür hinauf, die in ein Wohnzimmer zu führen schien, und rechts erstreckte sich eine herrschaftliche Treppe nach oben. Meine Füße bewegten sich unwillkürlich darauf zu.
    »Ihr Taschentuch. Ich habe es noch immer«, hörte ich Nella irgendwo hinter mir sagen, und als ich mich zu ihr umdrehte, hatte ich nicht länger das Gefühl, einer Fremden gegenüberzustehen. Sie griff in ihren Ausschnitt und holte das Taschentuch hervor, fleckig von Blut.
    »Danke fürs Leihen.«
    Alles, was ich hatte sagen wollen, schien plötzlich nichtig. Meine ganze lange Erklärung auf ein absolutes Minimum verkürzt, reduziert auf eine einzige

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