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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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die Wahl zwischen der Treppe in den westlichen Turm und dem langen Gang, und ich entschied mich für den Gang. Er war länger als erwartet. Nellas schleppende Schritte hallten irgendwo hinter mir, sodass ich schnell nach links weiterlief, die Treppe zum östlichen Turm hinauf. Am Ende befand sich eine geschlossene Tür mit einem Schlüssel im Schloss. Ich lauschte und hörte nichts bis auf Nellas Schritte, die immer näher kamen. Sie schnappte hart und stoßweise nach Luft. Ich musste den Schlüssel mehrmals herumdrehen, bevor er griff. Hoffentlich war Antonia ebenso widerstandsfähig wie ihre Tochter Nella! Dann würde sie dort drinnen liegen, ganz still zwar, wäre aber noch am Leben. Nella hätte sich von hinten auf mich gestürzt, wäre ich nicht zur Seite getreten. Ich sah sie nach vorne purzeln und auf allen vieren im Turmzimmer landen.

Das Turmzimmer
    Die letzten Lichtstrahlen des Tages fielen durch die hohen Gitterfenster. Die Wände schienen auf mich zuzukommen, die Schränke an der einen, die gebundenen Bücher an der anderen Wand. Doch ich konnte auch die Chaiselongue am Ende des Zimmers sehen, und Nella konnte das auch. Sie wimmerte zu meinen Füßen und versuchte aufzustehen. Kroch in einen Lichtstrahl und wieder heraus, umging mit knapper Not einen Haufen Glasscherben. Ich wollte ihr aufhelfen, doch sie schlug meine Hände fort. Ihr Wimmern stieg an, als sie die skelettdünne Frau erreicht hatte, die in einem viel zu großen, schwarzen Kleid halb auf der Chaiselongue saß, halb lag. Und ich weiß nicht, was schlimmer war: diese Frau anzusehen, deren Lippen zu einem wahnsinnigen, festgefrorenen Schrei zurückgestülpt waren, oder Zeugin des Entsetzens ihrer Tochter zu werden, als sie begriff, wer die ganzen Jahre im Turmzimmer eingesperrt gewesen war. Denn es bestand kein Zweifel. Selbst mit den ausgehungerten Wangen und den leblosen Augen glich die Frau Nella so sehr, dass man sie nahezu lebendig vor sich sah.
    »Mutter!«
    Nella war auf die Chaiselongue gekrochen. Ich hätte ihr sagen können, dass sich der zu einem Schrei geöffnete Mund nicht mehr schließen ließ, selbst wenn sie reichlich Druck ausübte. Die Totenstarre macht vor keinem Halt. Schnell stellte ich fest, dass der Tod innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden eingetreten sein musste. Wäre längere Zeit vergangen, hätte sie nachgelassen, und die Leiche wäre grün und aufgeschwemmt gewesen. Nella fauchte wie ein vom Tode gezeichnetes Tier.
    »Unterstehen Sie sich, sie anzufassen!«
    Doch ich hatte der Toten längst die Strümpfe heruntergezogen, um mir die Haut darunter anzusehen, die bereits die gleiche Temperatur wie die Umgebung hatte. Ungefähr fünfzehn Grad und kalt von innen heraus.
    »Was machen Sie da?«
    Ich drehte mit Mühe einen Unterschenkel herum, sodass Nella die blauroten Flecken sehen konnte, die sich auf der Rückseite ausgebreitet hatten.
    »Leichenflecken.«
    Ich hatte das Wort bisher noch nie in den Mund genommen, und ich verstand, warum. Es schmeckte ebenso schrecklich, wie es klang.
    »Das Blut sinkt in die untersten Teile des Körpers«, fühlte ich mich berufen fortzufahren, »und diese hier lassen sich nicht mehr wegdrücken, sehen Sie? Das passiert nach acht bis zehn Stunden. Ich würde übrigens darauf wetten, dass diese Flecken hier älter sind. Sie sind sehr dunkel, und die Leiche ist vollständig abgekühlt, doch die Verwesung hat noch nicht eingesetzt.«
    Nella hatte sich aufgerichtet. Sie starrte mit einem Blick in die Luft, den ich nicht deuten konnte.
    »Dann sind sie gleichzeitig gestorben, Antonia und Lily«, sagte sie. »Ich habe heute Morgen ein seltsames Heulen von hier oben gehört. Und ein Rufen. Sie hat nach Simon gerufen, aber ich habe ja gedacht … die ganzen Jahre hat man mir gesagt, dass das die Gespenster sind, die hier ächzen und stöhnen. Ich hatte keine Ahnung … Wie hätte ich denn wissen sollen, dass meine Mutter hier oben jammerte?«
    Ich kam mit mir überein, dass Schweigen an dieser Stelle besser war als die Wahrheit, die schlicht und ergreifend die war, dass ich um nichts in der Welt begreifen konnte, wie Nella ihre Mutter in all den Jahren nicht hatte entdecken können. Wäre das meine Muter gewesen, hätte ich ihre Stimme sofort erkannt, dachte ich. So etwas erkennt man einfach.
    »Wie hätte ich …?«, fuhr Nella fort. Ihre Stimme stieg mit einem Mal an. »Warum hast du nichts gesagt, wenn du das alles gewusst hast?«
    Sie hielt die Hand der Toten in ihrer, als

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