Das Turmzimmer
spräche sie für beide.
»Ich habe gedacht, dass du das selbst herausfinden musst«, sagte ich, doch es klang falsch. Selbst herausfinden! Als wären meine albernen Ideale wichtiger als Antonias Leben. Ich hatte keine Lust, näher darauf einzugehen und zu murmeln, dass es mir sehr, sehr leidtat, obwohl es das tatsächlich tat. Ich hätte natürlich sofort in der Hedebygade vorbeigehen und Nella in meine vortreffliche Theorie einweihen sollen, statt dem ganzen Theater mit dem Telegramm und Tante Annas verdammtem Ford 30.
Nella schloss der Leiche vorsichtig die Lider, die blau glänzten.
»Warum in aller Welt sollte ich das selbst herausfinden, kannst du mir das sagen?«
Ihr Finger strich über die hohle Wange der Leiche.
»Du sagst nichts?«
Ich sah mich gezwungen wegzusehen.
»Ich erwarte nicht, dass du das verstehst«, sagte ich. »Doch so weit ich zurückdenken kann, habe ich davon geträumt, wie alles sein sollte, falls ich irgendwann einmal meine Mutter finden würde. Alles sollte richtig sein.«
Ich weiß nicht, ob Nella überhaupt verstehen konnte, was ich sagte, denn die Tränen traten mir in die Augen, und das war Gott sei Dank jahrelang nicht mehr passiert. Nicht seit damals mit Lillemor und Herrn Svendsen. Ich versuchte, mich dafür zu entschuldigen, dass Nella mich so sah. Es war streng genommen das Letzte, was ich wollte.
»Dann hatte Mutter also recht«, sagte Nella, als es mir endlich gelungen war, mich einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen. Ich zog das blutbefleckte Taschentuch aus der Tasche und wischte mir schnell die Augen. Es roch nach Jod und Angst.
»Womit hatte sie recht?«, fragte ich.
Nella brachte die Leiche vorsichtig in eine liegende Position.
»Sie hatte recht damit, dass sie Lily war«, antwortete sie. »Das waren ihre letzten Worte, bevor sie gestorben ist.«
»Und das hat dir nicht zu denken gegeben?«
Heute weiß ich, dass Nella eine ganze Theorie so konstruiert hatte, dass alles, wenn man von ein paar einfachen Details absah, zusammenpasste, doch damals zuckte sie nur mit den Schultern. Sie faltete die Hände der Leiche über der Brust, so gut sich das machen ließ. Mit meiner Hilfe rückten wir auch den Kiefer zurecht.
»Was du alles über Leichen weißt«, bemerkte sie, und wenn sie mit den Schultern zucken konnte, dann konnte ich das auch. Wir standen nebeneinander und blickten auf Antonia hinunter, die wir beide hätten retten können. Wie sie so dalag, sah sie noch immer nicht im Mindesten friedvoll aus, doch wenigstens schrie sie nicht mehr.
»Kannst du mich bitte hier wegbringen?«, hörte ich Nella fragen. Für einen kurzen Moment dachte ich, sie spräche zu Antonia.
Ich wurde schon ganz nervös, doch dann fuhr sie fort. »Ich möchte gerne Simon treffen. Kannst du mich zu ihm bringen … Agnes, so heißt du doch, oder? Und mir erzählen, wie du all das herausgefunden hast, während wir Antonia draußen im Park begraben?«
Noch heute weiß ich nicht, ob wir das Richtige getan haben, doch ich habe getan, worum Nella mich gebeten hat. Nachdem ich in gewisser Weise dazu beigetragen hatte, sie der Möglichkeit zu berauben, ihrer richtigen Mutter noch lebend zu begegnen, schuldete ich ihr was auch immer, dachte ich. Außerdem wollte ich Simon schonen, der bereits reichlich gestraft war. Einen Todesfall, an dem er mitschuldig war, wollte ich ihm zusätzlich zu allem anderen nicht auch noch zumuten.
Die ganze Geschichte, wie ich auf dem Weg zum Turmzimmer zwei und zwei zusammengezählt habe, hat Nella jedoch erst jetzt erfahren, denn in dem Augenblick, in dem wir Antonia im Park begruben, wurde auch alles, was wir erlebt hatten, begraben.
Ich erinnere mich an den Augenblick, als wäre es gestern. Nella und ich hatten oben auf der kleinen Anhöhe unter dem alten Kirschbaum ein Loch gegraben. Die Anhöhe war von einem Dickicht aus Bäumen umgeben. Wir trugen Antonia hindurch, in ein sauberes Kleid gehüllt und leicht wie ein Spatz. Der Park duftete an diesem Abend nach Geißblatt, und die Stille kroch hinter den Stämmen zusammen. Wir standen jede auf einer Seite des Grabs und warfen abwechselnd Erde mit einem dumpfen, sandigen Laut auf die Leiche. Nella bat mich, mit niemandem über das, was passiert war, zu reden. Nicht einmal mit ihr.
»Bei näherer Überlegung glaube ich, dass es so am besten ist«, sagte sie, nachdem wir unser Werk mit einem weißen, namenlosen Stein gekrönt hatten, den ich nahe der Anhöhe gefunden hatte. Mit etwas gutem Willen glich er
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