Das Turmzimmer
einem Grabstein. Ich verstand ihre fehlende Neugierde nicht. Ich verstehe sie so gesehen bis heute nicht. Nella drehte sich zu mir um, und plötzlich sah sie sehr viel älter aus, oder aber ich sah nur Antonias eingesunkene Augenhöhlen irgendwo hinter der blassen Haut.
»Glaub mir«, sagte sie, »so kann man weiterleben. Ich weiß, wovon ich rede.« Ich öffnete den Mund, doch meine Geschichte saß bereits in meinem Hals fest.
Marguerite bekam sie natürlich in voller Länge zu hören, als Nella und ich zurück in Kopenhagen waren. Obwohl ich mich durch Nellas Bekanntschaft gezwungen gesehen hatte, die Kirche, die Hausbesuche und die Wohltätigkeit aufzugeben, traf ich mich immer noch mehrmals in der Woche mit Marguerite in der Silhouette.
»Irgendwann einmal schreibst du das Ganze auf, warte es ab«, pflegte sie zu sagen. Doch im Stillen, in dem es gar nicht so still war, dachte ich, dass sie mich sicher nur trösten wollte. Die Reste von mir. Denn die Albträume von Liljenholm fraßen mich still und leise von innen her auf. Jede Nacht holten sie sich einen Bissen und spuckten mich in den frühen Morgenstunden wieder aus. Allmählich wusste ich kaum mehr, was noch von mir übrig war. Außer derselben Geschichte in tausend Variationen, die immer damit endete, dass ich für das wirklich Wichtige eine winzig kleine Sekunde zu spät kam.
»Irgendwann hört es auf, Agnes. Ich weiß, dass das so ist«, wiederholte Marguerite, wenn ich stöhnte. Und letzten Endes hatte sie recht. In den letzten Monaten waren meine Nächte kein Albtraum mehr, doch dafür fehlt mir Marguerite so sehr, dass mich alles hier an sie erinnert. Die Bücher, die sie garantiert lieben würde. Meine alte Remington, die sie bewundern würde. Die Bäume im Garten schlagen in ihren Lieblingsfarben aus, gelb und braun. Wenn sie jetzt hier wäre, würde sie mich mit ihrem lustigen, eckigen Lächeln ansehen.
»Du hast es geschafft, Agnes!«, würde sie sagen. »Du hast die ganze Geschichte aufgeschrieben! Habe ich es nicht gesagt, dass es dir eines Tages gelingen wird?« Und ich würde sie fragen, ob ich etwas vergessen hatte. Der größte Luxus, den es gibt, ist ein Freund, der die eigene Geschichte besser kennt als man selbst, und ich glaube, sie würde nicken. Ein ebenso großer Luxus ist es, sich sicher sein zu können, dass der Freund einen in die richtige Richtung weist.
»Ein paar Details sind noch nicht ganz klar«, würde sie sagen. »Was Antonia angeht zum Beispiel. Ist sie einfach so verrückt geworden? Und es mag sein, dass ich indiskret bin, aber kannst du nicht bitte Antonias und Lilys … ja, wie hast du das genannt? … ungewöhnlich enge, ans Erotische grenzende Beziehung näher erläutern? Was ging da vor, und ging es weiter oder hat es aufgehört? Was ist passiert, Agnes? Du kannst doch nicht plötzlich so puritanisch geworden sein!«
»Ich bin ein schamhafter Mensch, Marguerite.«
»Du mit deinen ganzen bestickten Taschentüchern? Das nehme ich dir nicht ab.«
Marguerite hat recht. Ich bin wohl nicht das, was man im traditionellen Sinn unter schamhaft versteht, doch die Geschichte über das Leben auf Liljenholm, die ich bald gezwungen sein werde, Ihnen zu erzählen, ist harte Kost. Selbst für mich, für die das Leben kein Zuckerschlecken war. Der einzige mildernde Umstand, der mir einfällt, ist vielleicht der, dass ich sie Nella erzählen lassen kann. Denn, wie bekannt, hat sie Fräulein Lauritsens Tagebücher für mich zusammengeschrieben und übertragen und ihre eigene Geschichte hinzugefügt, die ich längst ins Reine geschrieben habe. Einen selbstständigen zweiten Band kann man die Seiten wohl nicht nennen, die auf Sie warten. Doch jedenfalls ist es der Teil von Nellas Geschichte, der bis jetzt ein entschwundenes Kapitel ihres Lebens war. Die Zeit vor ihrer Geburt, die ersten Jahre, an die sie gar keine Erinnerung hatte, und all die Jahre, an die sie sich zwar erinnern konnte, jedoch ohne den Drang zu verspüren, jemandem davon zu erzählen. Bis jetzt. Vor Kurzem standen sie und Simo mit meinem Frühstückstablett in der Tür. Pappiger Haferbrei und ein großes Glas Milch von den Kühen auf Frydenlund.
»Erinnerst du dich, was wir heute machen wollen?«, fragte sie, während Simo zufrieden mit dem Schwanz wedelte. Ich konnte kaum übersehen, dass sie ihr langes Haar in Locken gelegt hatte wie Mary Pickford in Rebecca of Sunnybrook Farm . Ihre Augen waren schwarz geschminkt.
»Es ist an der Zeit, Agnes.«
Das hatte
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