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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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gelebt hat. Sonst verstehe ich nicht, wie sie so lange überleben konnte.
    * Notiz von Agnes an Nella: vielleicht hat sie dich wirklich geliebt, Nella? Das ist doch nicht so schwer vorstellbar?/A. K.
    Worte sind treulos. Je nachdem, wer man ist, legt man etwas anderes in sie hinein, und es wäre mir sehr unrecht, wenn jemand in die meinen legen würde, dass ich Laurits vorwerfen würde, für all das Hässliche, was passiert ist, verantwortlich zu sein, die ganzen Jahre, die meine richtige Mutter im Turm eingesperrt war, die Tatsache, dass sie dort oben verhungert und verdurstet ist.
    Ich weiß natürlich, dass Laurits mitschuldig war, weil sie nichts verraten hat, aber ich weiß ebenso gut, dass sie mir das Leben gerettet hat. Agnes sieht mich immer so seltsam an, wenn ich das sage.
    »Fräulein Lauritsen hat Antonia während deiner ganzen Kindheit im Turmzimmer versorgt, hast du das vergessen?«, fragt sie. »Sie hat dir die Möglichkeit genommen, deine richtige Mutter kennenzulernen, Nella. Ich sage nicht, dass du ihr etwas nachtragen sollst, aber es gibt doch wohl Grenzen, wie heldenhaft sie wirklich war?«
    Agnes und ihr Gerede über richtige Mütter! Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll. Die einzige richtige Mutter, die ich gehabt habe, war Laurits. Ich hätte nicht auf Liljenholm aufwachsen können, wenn ich gewusst hätte, was sie gewusst hat. Oder wenn es sie nicht gegeben hätte. Ich glaube wirklich, dass Laurits mich geschützt hat, dass ihr bewusst war, dass sie sich zwischen mir und der Wahrheit entscheiden musste. In meinem Kopf verspottet mich Mutter für diesen letzten Satz (ja, so nenne ich Lily noch immer, Agnes begreift nicht, warum). Zwischen dir und der Wahrheit! Was glaubst du, wer du bist? Eine Autorin vielleicht?
    Es hat mich geschmerzt zu lesen, dass, wie Agnes geschrieben hat, Mutter für die Richtige ein fantastisches Vorbild hätte sein können, aber es stimmt. Ich war die falsche Tochter. Selbst nach ihrem Tod kann ich noch hören, wie sie mich verhöhnt hat, wenn ich auch nur versucht habe, die kleinste Novelle oder den trivialsten kleinen Brief zu schreiben. Du schreibst, wie du sprichst, Nella! Siehst du denn nicht, dass du nie einen Gedanken zu Ende führst? Was glaubst du, wozu Punkte erfunden worden sind? Zum Spaß? Mutter muss wirklich Angst davor haben, was ich diesmal schreibe, denn im Moment höre ich mich selbst kaum noch. Doch ich bin fest entschlossen fortzufahren. Soll sie versuchen, was sie will, um mich zum Schweigen zu bringen. Ich werde mich bemühen, es kurz zu halten und in ganzen Sätzen zu schreiben. Ich gebe mir wirklich Mühe, nichts Wichtiges auszulassen.
    Seit ich klein war, litt Laurits an Geschwülsten und Furunkeln, doch das teilte sie nur ihren Tagebüchern mit. In ihnen beschrieb sie detailliert, wie die Geschwülste unter ihrer Haut wuchsen und ihren Körper deformierten, sodass sie immer größere Kleider tragen musste. Zeltkleider, nannte sie sie. Sie sah sich gezwungen, die Geschwülste zu benennen, wenn sie auftauchten, sodass sie nicht zu einer namenlosen Gefahr wurden. Und dann waren da noch die Flecken, die sich ihre Arme hinunter ausbreiteten. Sie waren Landkarten von einer Welt nässender Wunden, mit der sie nichts zu tun haben wollte. »Nella ist noch so klein. Ich darf nicht vor ihnen kapitulieren«, schrieb sie und trug Kleider mit immer längeren Ärmeln und machte immer mehr Pausen im Laufe des Tages. Mutter hätte sich eigentlich wundern müssen, doch sie war schon immer mehr mit ihren Büchern als mit allem anderen beschäftigt gewesen. Laurits informierte sie nicht einmal, als sie in den letzten Zügen lag. Im Großen und Ganzen war Laurits’ Talent, mit den Lebenden zu sprechen, ebenso bescheiden wie ihr Talent, mit den Toten zu sprechen, obwohl sie ursprünglich dafür eingestellt worden war, die Toten zur Vernunft zu bringen.
    1884 holten Horace und Clara sie nach Liljenholm. Ich habe alle Tagebücher durchsucht, um herauszufinden, wo sie herkommt. An manchen Stellen sprach sie von einem größeren Hof in Dannemare weit draußen auf Lolland. Dort wuchs Lauritsen als zweitjüngste Tochter von fünf Kindern auf. Ihre Kindheit kann glücklich gewesen sein oder auch nicht, Laurits erwähnt es nie. Sie berichtet nur von dem besonders feuchtfröhlichen Abend, an dem ihr Vater den Hof beim Glücksspiel verloren hat, sodass ihre Mutter die heiratsfähigen Töchter so schnell wie möglich an wohlhabende Großbauern aus der Umgebung

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