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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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verheiraten musste. Damals war Laurits ein schönes, blondgelocktes Mädchen von vierzehn Jahren. Sie wollte nicht heiraten, um nichts in der Welt, niemals. Deshalb begann sie zu essen. Sie aß, bis sie vierzig Kilo zugenommen hatte und niemand sie haben wollte. Und dann dachte sie scharf nach. Ihre Schulbildung entsprach der, die die meisten in diesen Gegenden hatten. Sie wusste zwar einiges über moderne Haushaltsführung, doch niemand würde ein vierzehnjähriges Zimmer- oder Küchenmädchen einstellen, das für zwei aß und über hundert Kilo wog. Nicht einmal die erbärmlichste Häuslerkate wollte sie. Und Laurits mochte sich auch längst nicht mit allem zufriedengeben, denn sie wollte weit weg von Lolland, und sie wollte um alles in der Welt nicht arm sein. Deshalb fasste sie einen Entschluss. Ab sofort würde sie über besondere Fähigkeiten verfügen. Und bereits nach einigen Jahren sprachen sich diese Fähigkeiten über die Grenzen von Lolland hinaus im ganzen Land herum. Es gab zu der Zeit zwar nicht wenige, die aus den Karten die Zukunft lasen und mit den Toten redeten, doch die Leute waren sich einig, dass Laurits in beidem besser war als alle anderen zusammen. »Es war nicht besonders schwierig, wenn man von seiner Fantasie Gebrauch machte«, schrieb sie in den Tagebüchern. »Man musste sich die Leute nur genau ansehen, tief in die Karten oder in die Luft schauen und eine überzeugende Geschichte erfinden, die zu ihnen passte.«
    Anfangs sagte Laurits meistens mit Karten die Zukunft voraus. Kreuz und Karo standen für Finanzlage und Wohlstand, Herz und Pik für Liebe und Wohlbefinden, doch langsam wurden die Toten zu einem weitaus besseren Geschäft. »Ich wurde immer verwegener«, schrieb sie. »Als ich ungefähr fünfundzwanzig war, gehörte es für mich zum Alltag, am ganzen Körper zu zittern, als wäre ich in Trance, und lange Séancen mit Familien zu leiten, die Kontakt zu ihren Verstorbenen aufnehmen wollten.« Wie diese Séancen im Einzelnen aussahen, schreibt Laurits nicht, nur dass sie in der Regel in einem kleinen Fachwerkhaus stattfanden, das sie außerhalb von Køge gemietet hatte. Dafür erwähnt sie mehrmals, dass ihr glücklicher Stern dazu verurteilt war, zu verblassen. Irgendwann würde jemand entdecken, dass sie sich alles erschwindelt hatte, und was sollte dann aus ihr werden?
    Darüber hatte sie bereits einige Jahre nachgegrübelt, als eines Tages ein Mann in einem maßgeschneiderten Anzug und mit markanten Zügen vor ihrer Tür stand und ihr eine feste Anstellung als Verwalterin und Kindermädchen auf Liljenholm anbot. Der Mann war mein Großvater, Horace von Liljenholm. Wie alle anderen hatte er über jemanden, den er kannte, von Laurits gehört und wusste deshalb bereits, dass sie »für die Hausarbeit nicht die Beste« war, wie er es ausdrückte. Das entsprach der Wahrheit. Laurits hatte über die vergangenen Jahre beträchtlich an Gewicht zugelegt, doch Horace machte ihr klar, dass das keine Rolle spielte. Es war auch von untergeordneter Bedeutung, dass das einzige Kind, das Laurits jemals gehütet hatte, ihre jüngere Schwester gewesen war. Es war einzig und allein ausschlaggebend, dass Laurits mit den Toten reden konnte. Ihr entging nicht, dass Horace ein Mann war, dessen Autorität in jeder Bewegung zutage trat, doch es fiel ihr schwer, aus ihm schlau zu werden. »Ich habe das Gefühl, dass seine einzelnen Teile nicht zusammenpassen«, schrieb sie, »doch er macht den Eindruck, als hätte er für sich eine innere Logik gefunden, und das ist wohl das Entscheidende.« Vielleicht schwitzte er mehr, als man das von einem distinguierten Herrn erwartet hätte, sein Hemdkragen war, um genau zu sein, triefnass, doch andererseits hatte er sicher seine Gründe dafür, dachte sie. Das hatten die Leute in der Regel immer, wenn sie zu ihr kamen.
    »Meine Frau Clara und ich haben dreißig lange Jahre auf einen Erben gewartet, können Sie sich das vorstellen!«, begann er. Tatsächlich fiel Laurits das nicht weiter schwer, denn kinderlose Paare waren seit Jahren ihre besten Kunden.
    »Während all der Zeit hat meine Frau über kaum etwas anderes gesprochen als über den Erben, der nicht kommen wollte.«
    »Ja, das kann ich mir denken.«
    »Ja, und plötzlich, als wir die Hoffnung schon aufgegeben hatten, haben wir Zwillinge bekommen!«
    Vor zwei Monaten war Antonia Elisabeth zur Welt gekommen, gefolgt von Lily Elisabeth fünf Minuten später, doch damit hatte sich nicht alles zum Guten

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