Das Turmzimmer
ihre Mutter.«
Die Turmzimmer brachten Laurits auf eine Idee.
»Die Gespenster treiben sich da oben herum! Das weiß ich! Hören Sie sie nicht schreien?«, fragte Clara seit Monaten. Eines Tages, als sie besonders verschreckt klang, begab Laurits sich die schmale Speichertreppe hoch in den östlichen Turm und sprach Klartext. »Zuerst war mir etwas beklommen zumute, doch alles verlief gut«, schrieb sie, und als sie zurück ins Wohnzimmer kam, hatten Claras Wangen wieder Farbe angenommen. Das Lächeln, das sie Laurits schenkte, war genauso breit und unschuldig wie das von Antonia und Lily.
»Sie haben die Gespenster zum Verstummen gebracht«, sagte sie entzückt. »Jetzt murmeln sie nur noch. Das müssen Sie öfter machen, Fräulein Lauritsen!«
Und so geschah es. Morgens, mittags und abends stattete Laurits den Turmzimmern einen Besuch ab. »Natürlich gibt es nicht ein einziges Gespenst, das zum Verstummen gebracht werden muss, aber darüber kann ich mich schließlich schlecht beklagen«, bemerkte sie. »Ich rede da oben mit mir selbst, und Frau Clara geht es besser. Es ist ein Glück, dass nicht mehr dazu nötig ist.«
Dass es Clara besser ging, bedeutete jedoch nicht, dass es ihr gut ging. Dafür war zu viel in ihr kaputtgegangen. Sie tauschte die Angst vor den Gespenstern gegen eine auffällige Lethargie ein. Schon bald lag sie ständig auf ihrer Chaiselongue in dem runden Zimmer ganz unten im Turm (dort, wo Agnes heute ihr Arbeitszimmer hat). Nicht einmal William von Frydenlund vermochte sie zu empfangen, und wenn Laurits sie ein seltenes Mal bat, zur Erziehung der Mädchen Stellung zu nehmen, zuckte sie nur gleichgültig mit den Schultern.
»Ach, tun Sie nur, was Sie für richtig halten«, sagte sie, die Augen auf eine Blumenstickerei gerichtet, an der sie gerade arbeitete. »Haben wir darüber übrigens nicht schon einmal gesprochen, Fräulein?«
Alles hätte wunderbar sein können, wenn die Mädchen wie die meisten Mädchen gewesen wären, bemerkte Laurits. Dann hätte sie ihre Erziehung schon nach bestem Wissen in die Hand genommen. Doch bereits als sie noch klein waren, führten sie sich auf, dass jeder beunruhigt gewesen wäre, vor allem in Anbetracht des Wahnsinns, der in der Familie auftrat. Doch seltsamerweise beunruhigte dies weder Clara noch Horace.
»Ich verstehe überhaupt nicht, worauf Sie hinauswollen«, war alles, was Horace die seltenen Male sagte, als Laurits mit ihm über das seltsame Verhalten der Mädchen und über Claras Schläfrigkeit zu reden versuchte. »Soweit ich sehe, ist alles in bester Ordnung, Fräulein.«
Doch wie Laurits das sah, lief etwas total falsch. Sie litt alle erdenklichen Qualen, während dieses Gefühl in ihr wuchs. »Ich liebe die Mädchen schließlich, als wären sie meine eigenen, und ich bin überzeugt, dass das auf Gegenseitigkeit beruht«, schrieb sie. Von außen betrachtet waren Antonia und Lily süß und gut erzogen. Sie knicksten, wie es sich gehörte, und sagten an den richtigen Stellen Danke. Und dass vor allem Lily etwas eifersüchtig war, war nur natürlich. »Als Erstgeborene ist Antonia in jeder Beziehung mit einem goldenen Löffel geboren worden, und darüber sind sich die beiden völlig im Klaren«, schrieb Laurits. »Außerdem ist Lily weder so schön noch so charmant wie ihre Schwester, und sie wird weder den Titel noch das Gut erben. Während Antonia sich auf den Boden wirft und stundenlang schreit, sitzt Lily still in der Ecke und schaukelt und hält sich die Ohren zu. So ist ihr Verhältnis.«
Doch obwohl Lily zerbrechlich zu sein schien, hatte Laurits den Eindruck, dass sie begabter war. Außerdem hatte sie ganz offensichtlich Talent, Geschichten zu schreiben. Wenn sie und Antonia zusammen schrieben, hatte sie eindeutig mehr Ideen und war dabei amüsanter. »Ich glaube, dass sie es mit der richtigen Unterstützung weit bringen kann«, schrieb Laurits, »weshalb also mache ich mir täglich Sorgen um sie und Antonia? Warum spioniere ich den beiden hinterher, als wären sie Gewohnheitsverbrecher?«
Liest man die Tagebücher, wird offensichtlich, dass Laurits sich von dem Leben, das die Mädchen im Verborgenen führten, abgestoßen und angezogen zugleich fühlte. Sie schreibt das nicht direkt, doch ihre Tagebücher sind voller detaillierter Aufzeichnungen, was sie mal durch das eine und mal durch das andere Schlüsselloch gesehen hat. Und das war kein Pappenstiel. Wenn die Mädchen alleine waren, hörten sie nahezu auf, als zwei
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