Das Turmzimmer
umfangreiche Renovierung der beiden Türme in Auftrag gegeben. Ob die Aussicht auf bessere finanzielle Verhältnisse oder auf ein Leben ohne die Gespenster ihn antrieb, konnte Laurits nicht mit Sicherheit sagen. Doch sie wusste zumindest so viel, dass ihm vorschwebte, die Zimmer an alleinstehende adlige Fräulein im passenden Alter zu vermieten. Bald hallte das ansonsten so menschenleere Gut von Hämmern und Klopfen und unbekannten Stimmen wider. Laurits sah keinen anderen Ausweg, als ihre vielen Besuche in den Turmzimmern einzustellen, und zu ihrer Erleichterung schien sich dieser Entschluss weder auf Clara noch auf die Mädchen auszuwirken. Clara verbrachte ihre gesamte Zeit damit, die Hochzeit vorzubereiten und eine staatliche Heiratserlaubnis für die minderjährige Lily zu erwirken. Sie machte, wenn auch keinen stabilen, so doch einen weniger verschreckten Eindruck. Und wenn die Mädchen nicht an einer der Geschichten arbeiteten, die sie gemeinsam schrieben, verbrachten sie ihre gesamte Zeit im Schlafzimmer.
»Obwohl die Handwerker Lärm machen, ist es im Moment nahezu friedlich auf Liljenholm«, schrieb Laurits. »Als ich mir vor Kurzem erlaubt habe, zu den Mädchen hereinzusehen (sie lagen eng umschlungen auf ihrem Bett), dachte ich sogar, dass es vielleicht wirklich allen zum Besten dient, dass Frau Clara beschlossen hat, in Lilys Namen zu handeln. Meine kleine Antonia wird schon zurechtkommen, vor allem, wenn ich auch hier bin. Und Lily wird sich hoffentlich erholen, wenn sie fort von hier ist.«
Doch eines späten Abends veränderte sich plötzlich alles. Die EPISODE schrieb Laurits seitdem, wenn sie auf das anspielte, was damals passiert war. (Ich nehme es jedenfalls an. Denn sie erwähnt nie, um was es bei der EPISODE im Konkreten ging.) Laurits hatte in Gedanken versunken an ihrem Tisch gesessen und die Ereignisse des Tages aufgeschrieben, als sie aus heiterem Himmel zwei Schreckensschreie hörte. Einen hohen und einen tiefen, gefolgt von springenden Schritten und weiteren Schreien. Mädchenschreien. Sie stand so schnell auf, dass ihr schwindelig wurde, und folgte den Lauten den Gang hinunter. In der Tür zu Horaces und Claras Schlafzimmer standen Antonia und Lily in langen, weißen Nachthemden, die Arme umeinander gelegt, und in dem Doppelbett saßen Horace und Clara. Ihre Gesichter spiegelten eine Mischung aus Überraschung und Furcht wider, und ihre Augen blickten starr auf die leere Ecke nahe des Fensters. Claras Haar fiel in einem glanzlosen Zopf über ihre Schulter, und ihr Körper lehnte gegen Horaces, als würde sie vor etwas Schutz suchen, das bereits geschehen war. »Erst da begriff ich, wie gefährlich die Gespenster sein konnten«, schrieb Laurits. Denn es bestand kein Zweifel, dass die Gespenster im Schlafzimmer gewesen waren und Claras und Horaces Seelen mitgenommen hatten. Sie sahen zwar noch immer lebendig aus, wie sie so dasaßen, doch das waren sie nicht. Sie waren mausetot.
»Wir haben Schreie gehört«, erklärte Antonia. Tränen traten ihr in die Augen. Lily hatte sich weggedreht. Sie hielt sich den Bauch, als müsste sie sich übergeben. Laurits handelte instinktiv, brachte die Mädchen aus dem Zimmer, verschloss die Tür und rief die Polizei, überstand die Verhöre und das Begräbnis wie in einem Nebel, der sich erst viele Wochen später lichtete. Wenigstens bei Laurits. Für die Mädchen sah die Angelegenheit anders aus.
Die offizielle Todesursache lautete Selbstmord durch eine Überdosis Morphium. Die Beamten waren sich ihrer Sache so sicher, dass die Verhöre fast schon vorbei waren, bevor sie überhaupt begonnen hatten.
»Wir sehen oft solche Tragödien, wenn den Leuten klar wird, dass sie vor dem finanziellen Ruin stehen«, sagte der Landpolizist Jensen und sah sich neugierig um. Er hatte sich schon lange gefragt, was hinter den abweisenden Mauern des Guts vor sich ging. »Selbstmord ist eine Sünde, das wissen wir alle«, fuhr er fort, »doch für viele ist Armut noch sehr viel schlimmer. Es ist Ihnen vielleicht nicht klar, Fräulein Lauritsen, doch es hat sich gezeigt, dass Ihre Herrschaft Liljenholm bis über beide Türme beliehen hat. Die Renovierung erfolgte mit Geld, das seit Jahren nicht mehr vorhanden ist.«
Laurits hoffte, dass sie nicht eine Miene verzog. Auch nicht, als Antonia mit dem wilden Blick, mit dem sie seit den Todesfällen herumlief, in der Tür erschien.
»Die Gespenster haben Mutter und Vater getötet«, sagte sie mit einer Stimme, die jeden
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