Das Turmzimmer
nächstbesten Stapel mit Papieren. »Es wird mich nicht viele Stunden kosten, einen Ersatz für Sie zu finden, das wissen Sie.«
Er hatte recht. Die Leute würden Schlange stehen bei dem guten Gehalt, der Wohnung auf dem Gut und der Möglichkeit, das Haus zu führen und zwei wohlerzogene Mädchen zu unterrichten. Dieser Gedanke erfüllte Laurits mit Grauen. Das Geld war nicht das Problem, denn über die Jahre hatte sie einiges zurückgelegt, und bestimmt hätte sie auch nichts dagegen, Liljenholm als solches zu verlassen. Es war der Gedanke an Antonia und Lily, der sie davon abhielt. »Ich liebe die beiden Mädchen, das tue ich wirklich«, schrieb sie. »Ich habe mich um sie gekümmert, als wären sie meine eigenen Töchter. Doch Liljenholm ist ein Irrenhaus, alles läuft falsch. Neulich kam Antonia zu mir und sagte, dass die Gespenster jetzt Lily und sie überfallen würden. Und sie hätte es nicht einmal sagen müssen, denn mir sind längst die blauen Flecken an ihren Handgelenken aufgefallen. Gestern Morgen war sogar Lilys Mund ganz geschwollen. Ungeachtet, wie sehr ich es versuche, lassen sich die Gespenster diesmal nicht einfach wegreden. Sie müssen real sein, auch wenn ich sie nicht sehe. Was soll ich nur tun?«
Laurits versuchte alles Mögliche. Sie stieg immer wieder in beide Turmzimmer und rief den Gespenstern zu, dass sie die Familie in Frieden lassen sollten. Sie ging in den Keller und lief zwischen den verstaubten Weinflaschen herum, während sie alles und jeden verfluchte. Schließlich versuchte sie sich sogar an einer langen, sie schüttelnden Trance, doch die Gespenster schenkten ihr kein Gehör. Sie bekam sie nicht einmal zu sehen. Abend für Abend, Nacht für Nacht saß sie vor dem Schlüsselloch und wachte über Antonia und Lily, die jede ganz steif auf ihrer Seite des Betts lagen. »Das Verhalten der Mädchen hat mir schon früher Sorgen gemacht, doch jetzt beunruhigt es mich noch mehr«, bemerkte sie. »Es ermüdet mich. Ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll, Tag und Nacht wach zu bleiben.« Es war Laurits wirklich völlig unmöglich, die ganze Nacht die Augen offen zu halten, und jedes Mal, wenn sie einschlief und ruckartig wieder erwachte, waren die Gespenster schon da gewesen. Die Mädchen lagen aneinandergedrängt und weinten, Arme und Beine ineinander verschlungen, und die dünnen Frauenkörper waren mit neuen Malen übersät. »Es ist ein Albtraum«, schrieb Laurits. »Ich muss dem Einhalt gebieten, bevor jemand zu Tode kommt.« Doch sie schaffte es nicht rechtzeitig.
Es war im Mai 1898, als Frau Clara in einer ihrer klaren Stunden der Gedanke gekommen war, dass sie der vierzehnjährigen Lily helfen musste, von Liljenholm fortzukommen. Das Mädchen war allmählich ganz durchsichtig, hatte hohle Wangen und erschrockene Augen. Außerdem, fand Clara, war es an der Zeit, dass Antonia ihren Platz als rechtmäßige Erbin des Guts einnahm und Lily ihren als Hausfrau auf Frydenlund.
»Würden Sie Lily bitte ausrichten, dass ich die bestmögliche Partie für sie gefunden habe?«, fragte sie Laurits. Die nickte nur, während alles, was ihr lieb und teuer war, in verschiedene Richtungen davonsegelte.
»Wenn wir länger warten, wird es damit enden, dass es keine ordentlichen Männer mehr gibt«, fügte Clara hinzu und sah Laurits eindringlich an. »Das sehen Sie doch ein, Fräulein?«
»Ich hatte die größte Lust, sie durchzuschütteln und anzuschreien, dass sie uns das nicht antun könne«, vertraute Laurits ihrem Tagebuch an. »Und warum von allen Männern in diesem Land ausgerechnet Herr William? Er ist mindestens vierzig Jahre älter als Lily. Auch ich habe von den Vaterschaftsgerüchten gehört, was alles nur noch schlimmer macht. Und sieht man Lily und ihn nebeneinander, erscheinen sie durchaus wahrscheinlich, ihre etwas zu großen, maskulinen Züge und der grobe Körperbau. Frau Clara kann diese Ehe unmöglich ernsthaft wollen. Doch Lily scheint mit dem Beschluss sehr zufrieden.« Nachher mäßigt Laurits ihre Beobachtung. Lily war eher träge, beinahe apathisch, und nicht einmal Antonia schien noch zu einem einzigen Wutausbruch fähig.
»Da kann man wohl nichts machen«, war alles, was Laurits aus Antonia herausbekam. »So wie es jetzt ist, kann es schließlich nicht weitergehen, das siehst du doch auch ein.«
Vielleicht hing Claras plötzliche Unternehmungslust mit der von Horace zusammen, dachte Laurits. Er hatte nämlich gerade die letzten Mittel zusammengeklaubt und eine
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