Das Turmzimmer
selbstständige Individuen zu existieren, stellte sie fest. Vielleicht lag das daran, dass sie Zwillinge waren. Laurits hatte keine Erfahrung mit dieser Art Geschwisterverhältnis. »Aber es geht um zwei dreizehnjährige Mädchen, die im selben Bett schlafen«, schrieb sie. »Sie halten sich auch an der Hand. Und es fällt mir schwer, das zu schreiben, aber sie schlafen nackt. Eng umschlungen. Sie küssen sich auf den Mund. Manchmal liegt die eine auf der anderen. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich dieses Problem angehen soll, doch dass es so bald wie möglich angegangen werden muss, ist offensichtlich.«
Laurits kam jedoch nicht dazu, weil ein weitaus größeres Problem auftauchte. Nämlich die Gespenster von Liljenholm. Es war viele Jahre her, dass sie das letzte Mal Anlass zu einem Angstanfall bei Frau Clara gegeben hatten, doch der Sicherheit halber hatte Laurits trotzdem den Turmzimmern weiterhin ihre täglichen Besuche abgestattet. In dieser Zeit hatte sie nicht den Schatten eines Gespensts gesehen. Umso mehr beunruhigte es sie, dass jetzt die Mädchen behaupteten, sie jede Nacht zu sehen.
»Sie kommen, wenn wir eingeschlafen sind«, erzählte Antonia, die die Mitteilsamere der beiden war. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet. Es bestand kein Zweifel, dass sie sah, was sie sagte. »Lily und ich können sie ganz deutlich sehen«, beharrte sie. »Wir haben Angst, dass sie uns angreifen, Laurits. Wir wissen nicht, was wir tun sollen, damit sie verschwinden. Und du weißt, wie Lily ist. Ist dir nicht aufgefallen, dass sie fast nichts mehr sagt?«
Nun wusste Laurits ja ziemlich gut, was sich hinter Antonias und Lilys verschlossenen Türen abspielte. Sie war auch nahe daran zu sagen, dass sie von ihrem Platz vor dem Schlüsselloch noch nie auch nur den Schatten eines Gespensts gesehen hatte. Doch sie kam nicht dazu. Denn zur gleichen Zeit begannen die Gespenster auch Frau Clara wieder heimzusuchen.
»Hilfe! Hiiilfe!«, schrie sie zu den unmöglichsten Tageszeiten, und wenn Laurits angerannt kam, zeigte sie auf die gleichen leeren Ecken wie damals, als die Mädchen klein waren. Laurits stellte fest, dass ihre Stimmungsschwankungen noch heftiger waren als früher, und das machte ihr Sorgen. Entweder war Clara in Panik, oder sie war so schläfrig, dass Laurits sich gezwungen sah, ihre Sachen zu durchwühlen. »Ich hatte den Verdacht seit vielen Jahren, und jetzt ist er endgültig bestätigt worden«, schrieb sie eines Abends in Eile, bevor sie sich fertig machte, um sich zum Schlüsselloch des Zimmers der Mädchen zu schleichen. »Ganz hinten im Toilettenschrank im Ankleidezimmer hat Frau Clara genug Morphiumtropfen, um mehrere Menschen damit umbringen zu können. Sie muss sich über Jahre hinweg selbst medikamentös behandelt haben. Doch warum in aller Welt wirken die Tropfen nicht mehr? Was passiert da um mich herum?«
Schließlich atmete Laurits tief durch und ging zu Horace, der sich in dem Zimmer verschanzt hatte, in dem ich jetzt sitze. Damals war es mit schweren Büromöbeln eingerichtet, die »milde gesagt dem Raum nicht zum Besten dienten«, wie Laurits es ausgedrückt hat.
»Was möchten Sie, Fräulein?«, hatte er sie gefragt, ohne den Blick von den Bilanzen zu heben. Doch das hatte sie auch nicht erwartet. Sie hatte schon längst den Verdacht, dass Liljenholms finanzielle Mittel aufgebraucht waren, denn in den letzten Jahren hatte Horace eine Reparatur nach der anderen aufgeschoben, Land verkauft und die geplante Umgestaltung des Parks schleifen lassen. Doch es schien nicht geholfen zu haben, weder den Finanzen noch Horaces Stimmung.
»Um Ihre Frau und Ihre Töchter steht es sehr schlecht«, sagte sie so ruhig sie es vermochte. »Sie sind von den Gespenstern zu Tode erschrocken, mein Herr. Es ist so schlimm, dass Frau Clara seit Monaten kaum mehr ein Auge zugetan hat, und Lily ist besorgniserregend dünn und blass geworden. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.«
Horace hob seinen bleischweren Blick von den Stapeln, die ihn wie flache Dächer umgaben.
»Wenn ich mich nicht völlig falsch erinnere, Fräulein, habe ich Sie eingestellt, um die Gespenster zu beschwichtigen. Kann es sein, dass ich mich irre?«
Laurits sah etwas in seinen Augen. Es bohrte ein Loch in ihre Angst.
»Wenn Sie den Aufgaben hier nicht gewachsen sind, bin ich davon überzeugt, dass jemand anderer das ist, Fräulein Lauritsen«, fuhr er fort und blätterte lässig im
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