Das Turmzimmer
die ihren Platz immer gekannt hatte.
»Halt deinen verdammten Mund!«, hörte Laurits sie mich anschreien. »Verstehst du kein Dänisch, du kleiner Scheißer? Du sollst SOFORT STILL SEIN , habe ich mich klar ausgedrückt?«
Zuletzt tat ich in etwa, um was sie mich bat. Ich hörte auf zu schreien und begann zu reden, ganz leise nur, damit es niemanden störte. Doch nicht alles wendete sich dadurch zum Guten. Will man Laurits Glauben schenken, war es das kleinste Übel, dass ich nichts anderes als »Bella«, »Wo ist Bella?« sagte, während ich mich suchend umsah. Manchmal winkte ich auch oder zeigte in die Luft. Sehr viel schlimmer stand es aber um Antonia. Immer öfter sagte sie, dass sie keine Kraft mehr habe. Laurits kannte den harten Zug um ihren Mund. Sie meinte es ernst mit dem, was sie sagte.
»Wofür hast du keine Kraft mehr, Antonia?«, fragte sie, doch Antonia schüttelte nur den Kopf, als wüsste sie es nicht einmal selbst. Zu dieser Zeit hatte sie wieder damit begonnen, auf Liljenholm herumzuirren wie in den Monaten nach Horaces und Claras Tod. Nur schlimmer noch. In Antonias Kopf waren die Gespenster zurückgekehrt, und immer öfter war ich eins von ihnen.
»Laurits!!«, rief sie aus den seltsamsten Winkeln des Guts, und wenn Laurits dann herbeigeeilt kam, stand Antonia mit zitternden Fingern da und zeigte in staubige Ecken oder in die Luft. Manchmal ging sie sogar zum Angriff über, vor allem auf die Tapete in der Halle, wo ihr die Schatten am wirklichsten erschienen.
»Die Gespenster bringen uns um«, flüsterte sie. Unter dem weißen Kleid, das sie sich weigerte auszuziehen, damit Laurits es waschen konnte, hatte sie überall rote Striemen. »Aber sie ist immer noch unfassbar schön«, bemerkte Laurits, selbst als Antonias Mund immer größer wurde.
»Das Mädchen! Sie ist an allem schuld! Sie haben mir das falsche Kind geschickt!«
»Wer?«
»Die Gespenster! Anstelle des Kindes, das ich bekommen sollte, haben sie mir ein böses Kind geschickt, merkst du das nicht?«
Laurits sah sich gezwungen Nein zu sagen. »Es ist sehr bedauerlich, doch ich habe allmählich das Gefühl, dass ich mich wiederhole«, schrieb sie. »Sie ist Frau Clara in Neuauflage, und hier hilft kein Morphium mehr. Antonia gerät völlig außer sich und droht mir mit dem Schlimmsten, wenn ich es auch nur vorschlage. Doch am schlimmsten ist, dass sie mich langsam voller Ekel ansieht. Als wäre ich das personifizierte Böse. Ich habe keine Ahnung, wie sie darauf kommt.«
Zu Laurits’ Erleichterung gaben ihr selbst Lily und Simon recht, dass die Gespenster zum jetzigen Zeitpunkt vor allem in Antonias verwirrtem Kopf existierten. Laurits sah sie sogar einige Male vertraulich miteinander reden. Sowohl draußen im Park als auch in der Bibliothek. Er sah sie aufmerksam an und nickte, wenn sie sprach. Ein einziges Mal legte er sogar seine Hand auf ihre. Er zog sie erst fort, als Laurits in die Tür trat, um ihnen mitzuteilen, dass das Abendessen fertig sei. »Lilys Verhalten macht mir ebenfalls Sorgen«, hielt Laurits ein paar Stunden später in ihrem Tagebuch fest. »Es bedeutet zwar einen gewissen Fortschritt für den Hausfrieden, dass kein offener Krieg mehr zwischen Simon und ihr herrscht, doch was Lilys Verhältnis zu Nella angeht, ist keine Veränderung zu beobachten. Das kleine Mädchen kann hinfallen und herzerweichend weinen, doch Lily bleibt sitzen und sieht sie kalt an, oder sie steht auf und geht in die Bibliothek. Ich weiß schließlich am besten, dass Lily eigentlich kein gefühlskalter Mensch ist. Ich würde eher annehmen, dass sie zu viele Gefühle hat. Ablehnende Gefühle. Doch sie sollte sie dorthin richten, wo sie hingehören, statt gegen das arme Mädchen. Nella braucht ebenso eine Mutter, wie Lily das in dem Alter getan hat. Das Mädchen kann doch nichts dafür, dass sie Antonia immer ähnlicher sieht, und wenn man einmal von ihrem ewigen ›Wo ist Bella?‹ absieht, ist sie in der Tat genauso charmant, wie Antonia das in ihrem Alter war.«
Laurits zweifelte jedoch nicht daran, dass Lily in sich ging. Hin und wieder sah sie, wie sie mich versuchsweise in die Arme nahm, doch ihre Augen blickten mich weiterhin voller Ekel an, »oder vielleicht ist Ekel auch nicht das richtige Wort«, grübelte Laurits. »Eher eine Mischung aus tiefer Trauer und Verachtung, mit der kein Mensch zurechtkommt. Damit entschuldige ich meine Lily.« Außerdem fühlte sie sich allmählich wie eine Gefangene in ihrem eigenen Haus.
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