Das Turmzimmer
ich nur, dass ich aufwuchs, ohne zu wissen, warum ich immer Angst hatte. Mit einer Tante, die aus dem Fenster gesprungen, einem Vater, der im See ertrunken war, und einer Mutter, die meinen Vater zu einem Heiligen machte und meine Tante in die schwärzeste Hölle verbannte, in der ich mich so gesehen bereits befand.
* Lassen Sie mich kurz unterbrechen und darauf hinweisen, dass Nellas Manuskript an dieser Stelle in die letzten, handgeschriebenen Seiten übergeht. Ich habe das Ganze wortwörtlich abgeschrieben./A. K.
Das Erste, woran ich mich erinnere, ist bekanntlich die seltsame Geschichte mit dem Brieföffner. Mutter, die sich im Spielzimmer total hysterisch aufführte. Ich, die hinter der Tür vor Fieber und Schreck zitterte. Laurits, die wiederholte, dass »sie« nicht schreien könne, weil »sie« tot sei – wer auch immer »sie« war. Darüber habe ich natürlich auch nachgedacht, doch da absolut nichts in Laurits’ Tagebüchern meine frühe Erinnerung stützt, erlaube ich mir anzunehmen, dass sich das alles hauptsächlich in meinem Kopf abgespielt hat. Wie meine restliche Kindheit übrigens. Denn während Laurits alles gab, um so lange zu leben, bis ich groß genug war, um ohne sie zurechtzukommen, und Mutter alles gab, Antonia von Liljenholm wieder an die Spitze zu schreiben, kam ich still und ruhig zu mir selbst. Es dauerte lange, weil ich jedes Mal, wenn es mir etwas besser ging, eine neue Lungen- oder Halsentzündung oder Scharlach bekam. Die letzte hätte mich beinahe umgebracht. Meine Zwillingsschwester Bella saß in dieser Zeit oft an meiner Bettkante und sagte nicht viel. Manchmal spielte sie Karten auf meiner Bettdecke. Andere Male sang sie Kinderlieder in einer Sprache, die mir zugleich fremd und bekannt vorkam. Doch meistens saß sie nur da und wartete, dass ich wieder gesund wurde, und wenn mir das schließlich gelang, spielten wir jeden Tag. Bella war der schönste Name, den ich mir vorstellen konnte. Wir spielten alle möglichen Spiele: Verstecken, Fangen, meine Lieblingspuppenspiele.
Vielleicht sollte ich schreiben, dass es Bella nicht gab, nicht in Wirklichkeit, doch das käme dem gleich zu schreiben, dass es meine Kindheit nicht gab. Deshalb schreibe ich nur, dass nicht einmal Laurits Bella sehen konnte. »Aber natürlich ist sie da, wenn du das sagst, Nellamädchen«, pflegte sie zu sagen. »Du würdest deine alte Laurits doch nicht anlügen, nicht wahr?« Mehrmals am Tag stieg sie die steile Treppe zum östlichen Turmzimmer hinauf, um die Gespenster zu beschwichtigen – mit einem Schuss Morphium, gut zubereitetem Essen und den dicksten Büchern, wie ich später herausgefunden habe. Doch damals musste ich mich so weit von den Treppen fernhalten, die in die beiden Türme hochführten, dass mir nie aufgefallen ist, was sie mit nach oben genommen hat. Außerdem war Liljenholm kein Ort, an dem man Fragen stellte. Es war ein Ort, an dem man die Antwort mit dem Bügel bekam. Auch nachdem die richtige Antonia im Turmzimmer gelandet war.
Laurits schlug mich nie, doch Mutter tat das. »Wenigstens geht Lily beherrschter mit dem Bügel um als Antonia«, schrieb Laurits. »Doch es ist immer noch besorgniserregend, was da vor sich geht. Ich kann nicht umhin zu denken, dass Lily Nella in Wirklichkeit für ihre eigene mangelnde Fähigkeit, sie zu lieben, bestraft. Das Mädchen tut doch das Richtige. Sie sieht Lily als ihre Mutter an, hört sich, ohne Fragen zu stellen, all ihre Fantasiegeschichten über Herrn Simon an, findet sich damit ab, mit der ›verstorbenen Schwester‹ ihrer Mutter verglichen zu werden, und spielt mit ihrer Bella, ohne jemanden zu stören. Gar nicht zu reden von der grauenhaften Nacht im Turm! Ich bin mir fast sicher, dass Nella wach war, als Antonia sie von hinten angegriffen hat (ich muss übrigens daran denken, Antonias Morphiumdosis zu erhöhen), doch Nella hat es geschafft, so zu tun, als ob nichts gewesen sei. Lily kann sich kein pflegeleichteres Kind wünschen, auch wenn aus dem Mädchen vielleicht keine große Autorin werden wird. Das sagt Lily ihr oft, und vielleicht würde es helfen, wenn sie damit aufhören würde und das Mädchen in Ruhe schreiben ließe. Bestimmt entwickelt niemand ein Talent, wenn dauernd darauf herumgetrampelt wird. Die wenigen Male, die ich mir erlaubt habe darauf hinzuweisen, haben in gewaltigen Szenen geendet. Ich fühle mich so schuldig. Es gibt so vieles, was ich hätte anders machen können. Doch was kann ich jetzt noch tun? Bis darauf,
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