Das Turmzimmer
Geliebte. Das Verhältnis der beiden ging weiter, während Simon sein Liljenholmer Abenteuer auslebte und Karen sich damit abfand zu warten.
Vielleicht wusste sie, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er zu ihr zurückkommen und ihr einen Antrag machen würde, und als das schließlich geschah, als sie ihn endlich bekam, hat sie alles getan, um ihre Ehe zu schützen. Nicht zuletzt, als ihr die Wahrheit über Lily klar geworden ist, möchte ich meinen. Das ist sie offenbar erst, als sie den Begleitbrief gelesen hat, den Lily in ihrem eigenen Namen geschrieben hatte.
»Sie wirkte sonderbar exaltiert«, bemerkte Karen, als sie mir alles erzählte. Das ergibt durchaus Sinn, denn Lily hatte schließlich ein Faible für Geschichten, die ein wenig an die Wirklichkeit erinnerten, aber eigentlich nur ein kleines, umgeschriebenes Stück davon waren. Diese Geschichte war noch übler, als sie es sich in ihrer schwärzesten Fantasie hätte ausmalen können. »Ich habe sie an ein paar Stellen entschärft, die Sprache verbessert und Madame Rosencrantz zur Autorin gemacht«, schrieb sie. »Du musst das Manuskript unbedingt veröffentlichen, Simon! Madame Rosencrantz ist eine fantastische Erfindung! Eine Plaudertasche höchsten Rangs!«
Es gereicht Simon zur Ehre, dass er anderer Meinung war. Das hat er ihr in diversen Briefen über mehrere Monate hinweg zu verstehen gegeben. Doch jetzt, wo Laurits tot war, ließ Lily sich nicht länger zur Vernunft bringen. Vielleicht brauchte sie tatsächlich so verzweifelt Leser, wie Bella angenommen hat. Oder sie wollte Antonia ein für alle Mal spüren lassen, wie es sich anfühlte, wenn die eigene Arbeit unter einem anderen Namen veröffentlicht wurde. Jedenfalls endete es damit, dass Simon einen Tochterverlag gründete, in dem Die Königin der Gespenster erschien, damit niemand Madame Rosencrantz’ Schmähschrift mit dem Verlag Hansen & Sohn und Antonias Büchern in Verbindung brachte.
Es ist so seltsam, Agnes. Ohne dieses fürchterliche Buch würde ich heute ganz bestimmt keinen Verlag führen. Denn ohne dieses Buch wäre Antonia von Liljenholms Gesamtwerk nie wieder auferstanden. Und jetzt sitze ich hier und hoffe, dass das Gleiche noch einmal passiert. Durch unser Buch, nicht? Was ich jetzt schreibe, sollst du nicht ins Reine schreiben, aber mir stellt sich einfach die Frage, wer mehr gesündigt hat: Antonia und Lily, die mein Geheimnis preisgegeben haben, oder ich, die ich jetzt alles in meiner Macht Stehende tue, um ihre Geheimnisse preiszugeben. Gar nicht erst zu reden von Antonias Leiche im Park, unter dem weißen Stein im Schatten des Kirschbaums. Wir haben sie immerhin wirklich im Schutz der Nacht dort begraben, auf meine Veranlassung hin, während sie lediglich behauptet hat, dass Simon und Bella dort draußen liegen würden. Dennoch glaube ich, dass es ihr gefällt, dort zu liegen. Liljenholm war trotz allem ihr Platz. Sie war die Schwester mit dem goldenen Löffel, jedenfalls bis Lily ihn ihr weggenommen hat.
Nun ja, und ein Letztes, Agnes: Falls du das trotzdem ins Reine schreibst, solltest du erwähnen, dass ich nicht weiß, ob die richtige Antonia ihr Werk jemals gedruckt gelesen hat. Du hast es nicht zufällig im Turm gefunden, als du die Bücher heruntergeholt hast, oder?
* Agnes an Nella: Nein, ich habe nur diverse unumgängliche Klassiker gefunden, was mich daran erinnert, dass ich gerne die Bücher von Daphne du Maurier lesen würde, die du mir aus den Händen gerissen hast. Sobald wie möglich, wenn das nicht zu viel verlangt ist./A. K.
Ich habe oben im Turmzimmer alles auf den Kopf gestellt, aber nicht einen einzigen Hinweis auf Die Königin der Gespenster gefunden. De facto besitze ich nur das eine Exemplar, das ich aus dem Bücherregal genommen habe, als ich vor sechs Jahren hier war. Und ich weiß absolut nicht, wer es mit Madame Rosencrantz mit herzlichem Dank signiert hat. Doch je mehr ich darüber nachdenke, desto passender finde ich die Danksagung. Mit herzlichem Dank an die Mäuse, den Zufall und eine Verwalterin, die sich entschlossen hat, die Wahrheit zu sagen. Alles, was ich hier geschrieben habe, widme ich ihrer Erinnerung. Und meiner lieben Schwester Bella.
Nella von Liljenholm, Liljenholm, 21. August 1942
Einen Monat später
Die Silhouette einer Sünderin
Ich muss zugeben, dass ich keine Ahnung habe, was Agnes geplant hatte, an dieser Stelle zu schreiben. Ich muss auch zugeben, dass ich viel darum geben würde, dass sie und nicht ich (Nella,
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