Das Turmzimmer
da ist etwas, das ich dir nicht erzählt habe. Etwas, das auf seine Weise deine Theorie untermauert. Du musst das, was ich dir jetzt erzähle, nicht ins Reine schreiben, wenn es nicht in deine Geschichte passt. Aber es geht um Madame Rosencrantz’ Die Königin der Gespenster . Du hast nie verstanden, warum ich nicht über das Buch sprechen mag, nicht? Antonia hat es geschrieben. Meine richtige Mutter. Bis Karen mir das erzählt hat, war ich völlig davon überzeugt, dass Mutter (ja, so nenne ich Lily noch immer) es geschrieben hatte, denn soweit ich mir das ausrechnen konnte, wusste sonst niemand von Bellas Existenz. Laurits war schließlich schon lange tot und nicht mehr da.
Das Buch erschien fünf Jahre vor Antonias und Lilys Tod. 1931 mit anderen Worten, und darin von Bella zu lesen war das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Sehr viel schlimmer als der Versuch, mich umzubringen, oder davor gerettet zu werden, dass ich mich selbst umbringe. Ich hoffe, du kannst das verstehen, Agnes. Du sollst mich schließlich nicht als zu weich für diese Welt abtun, doch Bella war nunmal das Geheimnis, das mich all die Jahre auf Liljenholm am Leben gehalten hat. Sie war MEIN Geheimnis, genau wie Liljenholms Geschichte Laurits’ Geheimnis war, und jetzt wurde Bella in diesem Buch auf eine Weise vorgeführt, die ihr zum einen gerecht wurde und zum anderen überhaupt nicht. Gespickt mit Lügen und Spekulationen über alberne Kindermorde.
»Du schreibst über jemanden, der sich nicht verteidigen kann!«, habe ich die Wände in meiner Wohnung in der Hedebygade angeschrien, als ich das Buch zu Ende gelesen hatte. »Warum tust du das, Mutter?«
Es war übrigens viele Jahre her, dass Bella sich mir das letzte Mal gezeigt hatte. Doch an diesem Abend sah ich sie, ganz durchsichtig, als wäre sie aus Wasser.
»Mutter ist verzweifelt«, sagte sie, als wir uns herzlich begrüßt hatten. »Du siehst doch, dass ihre Karriere nicht mehr das ist, was sie einmal war, und die Fotoreportagen helfen dem Verkauf ihrer Bücher auch nicht länger. Schließlich sieht sie schon eine ganze Reihe von Jahren nicht mehr wirklich gut aus, nicht wie die Frauen in den Zeitschriften. Sie ist zu alt. Du hast dich doch auch gefragt, ob sie vielleicht krank ist, weil sie so dünn geworden ist. Was sie am meisten braucht … das Einzige , was sie braucht, ist ein Skandal, der ihren Lesern einen neuen Grund gibt weiterzulesen, und den hat sie jetzt bekommen.«
»Aber was haben wir damit zu tun, dass sich ihre Bücher nicht mehr so gut verkaufen?«
Es war überhaupt nicht meine Absicht, Bella anzufahren, und als sie tief durchatmete, verschwand sie fast zwischen meinen Händen.
»Hör zu«, sagte sie. »Bestimmt ist Mutter einfach nichts anderes eingefallen. Aber spielt es denn überhaupt eine Rolle? Wir wissen schließlich, dass es nicht stimmt.«
Diesen Satz hat sie das letzte Mal, dass ich mit Sicherheit sagen kann, sie gesehen zu haben, wiederholt. Es war unten in der Küche, du und ich, wir waren gerade nach Liljenholm zurückgekehrt, Agnes. Erinnerst du dich, dass ich einfach nur dagesessen und etwas in der Luft angestarrt habe? Das war Bella, die dort stand, noch durchsichtiger als sonst.
»Wir wissen schließlich, dass die Geschichte frei erfunden ist, vergiss sie einfach und komm mit mir hoch zum Klavier«, hat sie gesagt. »Dann geht es dir gleich viel besser, das weißt du doch.«
Die Wahrheit sieht aber so aus, dass es mir mit dieser Geschichte noch schlechter geht, seit Karen mir erzählt hat, wer die richtige Madame Rosencrantz ist. Antonia im Turm, meine richtige Mutter – ich kann nicht aufhören, das zu wiederholen. Offenbar hat sie in den Jahren nach Laurits’ Tod an dem Manuskript gearbeitet. Meine Erinnerungen hatte sie es genannt, und eines Tages, als Lily mit ihrem Essen und dem Morphium zu ihr hochkam, lagen die Seiten da und waren fertig. Oder jedenfalls hat Lily das so aufgefasst. Sie hatte keine Ahnung, ob das Manuskript für sie bestimmt war oder nicht, aber sie hat es mit hinuntergenommen. Karen zufolge zeugte es deutlich von Antonias gebrechlichem mentalen Zustand.
Ich hätte es gerne gelesen, doch Karen hat längst das Original, Lilys revidierte Ausgabe, den Begleitbrief und alles, was sonst noch in Simons Aktenschrank war, verbrannt. Das hat sie als Erstes getan, als sie dich, Agnes, endlich losgeworden war, und in gewisser Weise kann ich sie verstehen. Als Antonia Simon begegnete, war Karen schon mehrere Jahre Simons
Weitere Kostenlose Bücher