Das Turmzimmer
gut hier aufhalten, bis das ein Ende hat, denke ich. Und ich habe mich so gesehen auch bereits dazu entschlossen. Ungeachtet, wie du dich entscheidest, plane ich, für eine Zeit lang hier hinauszuziehen.«
Nellas Entschluss hätte mich streng genommen nicht so sehr überraschen dürfen. Obwohl sie zerbrechlich wirkt, geht sie lieber ihren eigenen Weg, als dass sie andere auf sich aufpassen lässt, und der Gedanke an sie hier alleine und mich in Kopenhagen beschloss die Sache. Ich würde mich lieber zu Tode erschrecken lassen, als vor Sehnsucht zu sterben. (Im Gegensatz zu Nella offenbar. Oder vielleicht würde sie mich auch gar nicht vermissen?) Meine Erscheinung von vorhin kam sofort zurück. Die flüsternde Stimme in meinem Ohr: Nähere dich Nella, so sehr du kannst , hatte sie gesagt. Lerne sie richtig kennen.
»Ich lasse mich nur darauf ein, wenn du mir alles erzählst, worüber du nie sprechen wolltest. Sowohl über deine Jahre hier auf Liljenholm als auch über damals vor fünf Jahren, als Antonia im Sterben lag und du zurückgekommen bist«, sagte ich mit einer größeren Ruhe, als ich sie empfand. Nella trippelte unruhig mit den Füßen. Die lange Furche in ihrer Stirn war noch tiefer geworden, doch ich fuhr fort: »Bei aller Ehre und allem Respekt vor Fräulein Lauritsens Tagebüchern, doch wenn sie gekürzt und zusammengeschrieben werden sollen, musst du das übernehmen. Ich will Liljenholms ganze Geschichte erzählen. Nicht nur ihren Teil. Verstehst du das?«
Nella stand ruckartig auf, und zuerst glaubte ich, sie nickte zu meiner Frage, doch dann sah ich leicht verwundert, dass sie zur Tür hin nickte.
»Was hast du vor, Nella?«
Als Antwort zündete sie die nächstbeste Kerze an. Wir gingen an dem Mädchenzimmer und der Viktualienkammer vorbei und weiter die Treppe zur Küche hinunter. Im Küchenboden, hinter dem Ofen, entdeckte ich ein viereckiges Loch. Eine Kellertreppe, wie sich herausstellte. Die Stufen waren lose, was auch auf das Geländer zutraf, wie ich auf halbem Weg feststellte. Es fiel krachend die Stufen hinunter. Nella erweckte eine einzelne Deckenlampe zum Leben.
»Pass auf das Geländer auf«, murmelte sie irgendwo vor mir, was sie auch gut etwas früher hätte sagen können.
»Was ist da unten überhaupt?«
Der Geruch nach Holzfäule war unverkennbar, und meine Beine zitterten so sehr, dass ich nur mit Schwierigkeiten einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Nella ging jetzt einen Gang entlang.
»Soweit ich weiß, sind hier nur leere Kellerräume und eine Menge Wein von ich weiß nicht wann«, sagte sie. »Da drüben rechts sind übrigens die Sicherungen. Das solltest du vielleicht wissen, wenn der Strom wieder einmal ausfällt.«
Ihre Antwort gefiel mir nicht. Streng genommen hatte ich schon genug Probleme mit den ganzen leeren Zimmern oben, vor allem jetzt, wo ich hier wohnen sollte. Umgeben von Leere, wie es schien.
»Komm schon!«
»Aber Nella, du weißt doch, dass ich nicht … ich meine im Alltag …«
»Scht, komm her und nimm ein paar Flaschen, und hör mit dem Unsinn auf. Unsere Vereinbarung muss gefeiert werden, komm schon! Nein, nein! Zwei Flaschen reichen mit Sicherheit nicht!«
Als wir wieder oben waren, holte Nella die feinsten Gläser heraus, die es auf Liljenholm gab, mit vergoldeten Füßen, die plattgedrückten Blumenköpfen glichen. Wo genau sie die gefunden hatte, weiß ich nicht, denn als Erstes lotste sie mich an Simons Arbeitszimmer mit dem Klavier vorbei in das fast leere Eckzimmer unten im westlichen Turm, von dem aus man volle Sicht auf den Park hatte. Jedenfalls tagsüber. Jetzt sah ich nur quadratische Ausschnitte meines Spiegelbilds, und ich glich dem, was ich war. Jemandem, der zu alt war, sich tagelang wachzuhalten. Alles in mir erstarrte. Das Gefühl von etwas Fremdem war hier drinnen noch aufdringlicher als oben in Fräulein Lauritsens Kammer. Eine schneidende Kälte durchfuhr mich.
»Wenn du dich denn losreißen kannst?«
Der Wein in dem Glas, das Nella mir reichte, sah fast schwarz aus.
»Aber spürst du das denn nicht?«
Das Gefühl verschwand, sobald wir uns zuprosteten.
»Was soll ich spüren?«
»Nichts«, antwortete ich, was der Wahrheit entsprach. Der Wein lagerte sich in einem trüben Muster auf der Innenseite des Glases ab, was die Hoffnung in mir wachsen ließ, dass Nella jeden Gedanken weiterzutrinken aufgeben würde. Doch offenbar begeisterte sie der Geschmack von Alkohol und gärender Hefe, denn sie prostete mir erneut
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