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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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zu.
    »Ich wollte dir schon seit Jahren eine Geschichte erzählen«, sagte sie und ließ sich auf einem alten, roten Sofa nieder. Es war das einzige Möbelstück im Raum, sodass ich ihr vorsichtig Gesellschaft leistete. Die Federn quietschten unnötig laut, schien es mir. Nella wippte gedankenverloren mit dem Fuß, leerte ihr Glas und füllte es erneut.
    »Mehr Wein?«
    Die schäumende Flüssigkeit stieg diesmal etwas zu nah an den Glasrand. Ich bekam das klebrige Zeug auf die Finger, als ich das Glas an die Lippen führte. Nella hatte ihres bereits noch einmal gefüllt.
    »Ich bekomme einfach nicht heraus, warum die Geschichte wichtig ist, verstehst du?«, sagte sie und leerte ihr Glas. »Aber ich bin davon überzeugt, dass sie wichtig sein muss , und ich wünschte wirklich … ja, wenn ich die Autorin wäre, würde ich mit ihr anfangen.«
    »Du willst, dass ich mit einer Geschichte anfange, von der du selbst nicht einmal weißt, warum sie wichtig ist?«
    Nella nickte.
    »Sie ist das Erste, an das ich mich mit Sicherheit erinnere, und an das Erste, an das man sich erinnert, erinnert man sich doch in der Regel aus einem ganz bestimmten Grund, nicht?«
    Ihre Augenlider zuckten.
    »Es ist mir ein Rätsel geblieben, was ich an jenem Nachmittag eigentlich gesehen habe. Immer wieder war ich fast überzeugt, es herausbekommen zu haben, und als wir oben in Laurits’ Zimmer gesessen und gelesen haben, hatte ich gehofft, dass sie es mir verraten würde. Denn Laurits war auch dabei gewesen. Deshalb glaube ich, dass es Dinge gibt, über die nicht einmal Laurits gewagt hat, in ihren Tagebüchern zu schreiben. Ich befürchte, dass hier sehr viel mehr passiert ist und dass es schlimmer ist, als wir uns das überhaupt vorstellen können.«
    »Dann glaubst du also, dass das, woran du dich erinnern kannst, etwas mit der berüchtigten EPISODE zu tun hat?«
    »Ich habe keine Ahnung, aber das habe ich mich natürlich auch gefragt.«
    Nella griff nach der Flasche und schenkte nach.
    »Ich bin bereit, wenn du es auch bist«, sagte sie, und natürlich war ich bereit. Mein Gedächtnis ist nicht fotografisch, doch in aller Bescheidenheit ist es sehr viel besser als das des Durchschnitts. Hören Sie die Geschichte, die Nella mir erzählt hat.
    »Ich war sechs Jahre alt, als es passiert ist«, begann sie. »Der Wind rüttelte an Liljenholm, wie Mutter an mir rüttelte, wenn ich unartig war. Und als ich in meinem kleinen Zimmer … das, das neben dem Selbstmordzimmer liegt … die Beine über die Bettkante schwang … du warst vielleicht einmal drinnen?«
    Ich schüttelte den Kopf, und sie fuhr fort:
    »Also, als ich die Beine über die Bettkante schwang, wusste ich, dass Mutter noch fester an mir rütteln würde, wenn sie herausfand, dass ich mein Bett verlassen hatte. Ich hatte meine kleine, rote Klingel, die ich betätigen sollte, wenn mir etwas fehlte, dann kam Laurits. ›Was kann ich für Sie tun, Fräulein Nella?‹, pflegte sie zu fragen. So war es die ganzen Wochen gewesen, in denen ich krank im Bett gelegen, Blut gehustet und im Fieber geträumt hatte, erstickt zu werden, doch jetzt war alles anders. Ich schwitzte und fror gleichzeitig, hatte aber weder Durst noch Schmerzen. Dafür hatte ein Laut von unten mich neugierig gemacht. Eine Art Weinen. Zunächst hatte er mich an ein Geräusch erinnert, das ich oft oben aus dem östlichen Turmzimmer gehört hatte, und dann doch wieder nicht …«
    »Ein Geräusch?«
    Ich konnte es nicht lassen, sie zu unterbrechen, eifrig wie ich war, und Nella nickte zwischen ein paar Schlucken.
    »Ja, man hörte oft einen leisen, klagenden Laut von dort oben. Das waren die Gespenster, die stöhnten, sagten Mutter und Laurits. Ich sollte mich von den Zimmern fernhalten und Liljenholm in Frieden seine Eigenheiten haben lassen, meinten sie. Dann passiere mir nichts.«
    Wir schauderten gleichzeitig.
    »Der Unterschied war nur, dass das Weinen, das ich von unten hörte, sehr viel hysterischer klang als die Laute aus dem Turm. Wenn ich weinte, sagte Mutter immer: ›Sei nicht so hysterisch, Nella!‹ In letzter Zeit hatte sie das sehr oft gesagt, deshalb wusste ich, dass man hysterisch war, wenn man ganz tief unten in etwas Schwarzem saß und nicht wieder hochkam. Jetzt versuchte ich stattdessen auf die Beine zu kommen. In dem bleichen Nachmittagslicht, das durch die Ritzen in den Gardinen hereinfiel, sahen sie krank aus. Die Blutadern hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit einem gespannten Fischernetz, waren

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