Das Turmzimmer
mich.
»Lass uns austrinken und noch eine Flasche aufmachen, ja?«, meinte sie leichthin. Ich versuchte, einen Gedanken zu fassen, der mir immer wider entglitt. Er hatte mit der trauernden Antonia zu tun. Ich hätte nicht geglaubt, dass diese seltsam vereiste Frau dieses Gefühl gekannt hatte.
Was weiter an diesem Abend geschah, versinkt für mich, milde ausgedrückt, im Nebel, doch zumindest lagen schnell drei weitere leere Flaschen neben dem Sofa. Der Wein schmeckte immer besser, je mehr wir tranken. Das lag in der Natur des Liljenholmer Weins, versicherte mir Nella. Ich versuchte ihr mehrmals von meinen Erscheinungen zu erzählen, daran erinnere ich mich. Plötzlich war da ein großer, gebeugter Schatten. Er stürzte sich Hals über Kopf in das Loch, in dem du die Tagebücher gefunden hast, und ich glaube, ich habe ihn neulich wiedergesehen … Das war Fräulein Lauritsen, nicht? Sie hatte ein Medaillon um den Hals und hat mir zugeflüstert …
Doch Nella hörte schon lange nicht mehr zu.
»Da sind noch mehr, wo der herkommt«, sagte sie und meinte den Wein, mit dem der Keller offenbar gut gefüllt war. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass sie danach sofort einschlief. Mit dem Kopf auf der Armlehne und einem seligen Lächeln auf den Lippen, das dort verweilte, bis die Sonne über den Baumkronen des Parks wieder aufging. Ich weiß das, denn als ich die Augen aufschlug, schwindelig von einer anderen Welt, lächelte sie noch immer. Die Geschichte von Antonia und dem Brieföffner kam zurück. Ich versuchte, mir die Situation vorzustellen, doch in dem Zimmer war es bereits zu hell, und es gab weder eine Blutspur noch war auch nur der Schatten eines Schaukelpferds zu sehen. Ich sah nur eine Erinnerung, die sich mir nicht erschloss, und die sehe ich noch immer. Ungeachtet, wie ich es drehe und wende, passt sie nicht in die mir bekannte Geschichte von Liljenholm, und das macht mir Sorgen. Denn die Wahrheit über meine Schreibfähigkeiten ist die, dass es mir nie gelungen ist, eine Geschichte mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende fertig zu schreiben, obwohl in meinem Kopf alle Teile präsent waren und es nur darum ging, sie zu Papier zu bringen. Und wie, frage ich mich, soll ich überhaupt bis zur Mitte oder sogar zum Schluss kommen, wenn entscheidende Teile der Geschichte einfach fehlen?
Die letzten Vorbereitungen
Ich kann Ihnen verraten, dass die Frage dadurch, dass mittlerweile anderthalb Monate vergangen sind, nicht unwesentlicher geworden ist. Eigentlich hat die Zeit alles nur schlimmer gemacht, inklusive der Widrigkeiten Liljenholms, und das ist die Ironie des Schicksals in ihrer reinsten Form. Meines Wissens war Nella und nicht ich diejenige, die hatte hierbleiben wollen, bis all die deprimierenden Geschichten aus ihr heraus und von mir zu Papier gebracht worden waren . Bis es aufhört, waren ihre genauen Worte gewesen. Umso verwunderlicher ist es, dass ich mich die letzten drei Wochen und vier Tage alleine auf Liljenholm aufgehalten habe. Drei Wochen und vier Tage! Sie machen sich keinen Begriff davon, wie langsam die Zeit vergeht, wenn man immer angespannt ist. Und darüber hinaus lassen die Ablenkungen in dieser Gegend etwas zu wünschen übrig. Hier gibt es kein Telefon, kein Radio, die Post kommt nur einmal die Woche, und sobald ich Antonias altes Arbeitszimmer verlasse, fehlt nicht viel, dass ich an Fingern und Zehen Erfrierungen bekomme.
Und Nella? Nun ja, sie genießt wohl das süße Leben in Kopenhagen, während ich diese Worte schreibe. Wie die Mutter, so die Tochter , könnte man das Phänomen auch nennen, doch das setzt voraus, dass man einen Teil der Geschichte kennt, von der ich nicht weiß, wie ich sie zu Papier bringen soll. Lassen Sie mich nur so viel sagen, dass Nella bereits vor zwei Wochen wieder nach Liljenholm hätte zurückkommen sollen, wenn ihr Versprechen einen höheren Wert gehabt hätte als das Brennholz, das ich zum Verheizen hacke, sodass sich meine Arme danach wie Pflastersteine anfühlen. Das Versprechen wurde an einem späten Abend vor genau drei Wochen und fünf Tagen gegeben, als Nella an die Tür von Antonias Arbeitszimmer klopfte und den Kopf hereinsteckte. Ihr Haar war offen wie die Gedanken an einem Sommertag.
»Wie läuft es?«
In der Hand hielt sie eine Vase mit einer jämmerlichen Mischung aus Weidenkätzchenzweigen, frischen Johanniskrautzweigen und roten Vogelbeeren. Bevor ich protestieren konnte, stellte sie sie mitten auf Antonias sauberen Schreibtisch.
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