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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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noch blauer als meine Haut, und meine Zähne klapperten, obwohl ich meinen dicksten Mantel über das Nachthemd zog. Ich schlich in Richtung des Schluchzens. Der Laut mischte sich mit Laurits’ Stimme, die so klang, wie wenn sie mich tröstete. Auf dem Boden des Spielzimmers sah ich ein Bündel. Und dieses Bündel schrie.«
    Nellas Augen wanderten von den Fenstern zu der kleinblumigen Tapete. Sie hatte Flecken von alten Wasserschäden, die obszönen, dunkelbraunen Blumen glichen.
    »Damals war dieser Raum hier fast ebenso leer wie heute, abgesehen von einem Schaukelpferd und ein paar Bauklötzen in der Ecke«, fuhr sie fort. »Das Bündel schaukelte auf dem Boden hin und her. Es musste Schmerzen haben, ich habe nie jemanden auf diese Weise jammern hören, und als Laurits sich aufrichtete, musste ich die Augen fest schließen und wieder aufmachen. Doch es bestand kein Zweifel.«
    Nella starrte in die Luft.
    »Das Bündel war Mutter, und sie war … entschuldige, aber sie war nackt, abgesehen von dem Umhang, der um ihre Schultern lag. Ich wusste nicht einmal, dass sie nackt sein konnte , verstehst du? Für mich war sie in ihren langen Kleidern und mit ihrer steifen Maske von einem Gesicht auf die Welt gekommen, und jetzt lag sie plötzlich da. Ihr Mund stand offen, und die Beine waren gespreizt. Sie schien zu bluten, woraus, konnte ich nicht sehen, und ihr Gesicht war nass, das Haar klebte an der Haut. ›Zieh deinen Umhang ordentlich an, dann gehen wir hoch ins Bett‹, sagte Laurits zu ihr. ›Komm, ich helfe dir.‹ Doch Mutter zeigte nur mit einem silbernen Gegenstand auf sie, den sie dann ruckartig auf ihren Bauch richtete. Oder etwas tiefer. Ich kann mich gut daran erinnern, was sie gerufen hat: ›Ich habe sie schreien hören. Sie hat geschrien. Ich bin mir sicher, dass ich es gehört habe, und du hast sie mir genommen!‹ Laurits beugte sich wieder zu ihr hinunter. Sie kämpften um den Gegenstand, aber Laurits war stärker. Laurits war immer stärker. Sie warf den Gegenstand weg, sodass er dicht vor meinen Füßen landete. Es war Mutters Brieföffner mit dem silbernen Griff. Das Blatt war blutverschmiert. ›Sie hat nicht geschrien, meine Liebe‹, hörte ich Laurits sagen, und ihre Stimme zitterte. Ich hatte sie noch nie zuvor zittern hören. ›Sie kann nicht schreien, weil sie tot ist. Du weißt doch, dass sie tot ist. Hörst du, was ich sage? DU WEISST DOCH, DASS SIE TOT IST !‹«
    »Und weiter?«
    Nella wandte mir das Gesicht zu. Ihr Blick war leer.
    »Ja, ich muss mich wohl in mein Bett zurückgeschlichen haben, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Ich kann mich auch nicht erinnern, wie lange ich krank war oder was ich eigentlich hatte, doch all die Jahre hörte ich hin und wieder Mutters Weinen aus dem Spielzimmer. In der Regel abends, wenn sie glaubte, dass ich schlief. Mir fiel dann nichts anderes ein, als mir die Decke über die Ohren zu ziehen, bis sie aufhörte. Und ich dachte … oder ich habe versucht zu denken, dass ich an dem Nachmittag nichts gehört oder gesehen habe. Nicht wirklich. Es war nur das Fieber, das mich hat Gespenster sehen lassen. Doch in den folgenden Tagen hinkte Mutter so merkwürdig und hielt sich den Bauch, und seitdem waren ihre Handflächen und Unterarme manchmal mit Schnittwunden übersät. Manchmal waren Laurits’ Handflächen das auch.«
    »Und du hast nie eine der beiden gefragt …?«
    Nella goss uns beiden Wein nach. Bis zum Rand und etwas darüber.
    »Nein, ich habe nie eine der beiden gefragt, was in aller Welt da vorging«, sagte sie. »Ich habe ja nie etwas anderes gekannt, wie du weißt, und außerdem habe ich es nicht über mich gebracht zu erzählen, dass ich Mutter gesehen hatte … so.«
    Wir schwiegen eine Weile. Ich war allmählich ziemlich benebelt, und der Gedanke an Antonia, nackt, mit gespreizten Beinen und einem Brieföffner in der Hand, sorgte dafür, dass das Sofa sich drehte.
    »Und du glaubst, dass sie von Bella gesprochen hat?«, war das Einzige, das mir einfiel. Nella schien unbeeindruckt.
    »Du solltest Madame Rosencrantz’ alte Schauergeschichte von meiner ermordeten Zwillingsschwester endlich in Frieden ruhen lassen«, sagte sie. »Ich habe dir gesagt, was ich davon halte. Ehrlich gesagt: Der einzige Platz, an den sie vielleicht gehört, ist neben den Jungfrauenkäfig .«
    Der Jungfrauenkäfig war einer von Antonias Romanen. Ich hatte ihn in einer Ausnahmesituation sogar gelesen. Nella lächelte nachsichtig. Wahrscheinlich über

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