Das Turmzimmer
klein wenig magisch, war sie das nicht, Mutter? Doch Antonias Lächeln war bereits erloschen.
»Warum musst du immer alles zerstören?«, hatte sie gefragt und war aufgestanden. »Was in aller Welt willst du von mir, kannst du mir das sagen?«
So vieles, hätte Nella antworten können, doch sie antwortete das Einzige, von dem sie sicher war, dass Antonia es hören wollte:
»Ich will nichts von dir, Mutter.«
Sie hatte es sogar mehrere Male wiederholt, doch Antonias Schritte hatten sich bereits entfernt, und ihre Stimme hatte sich mit der von Fräulein Lauritsen in der Küche gemischt. Ihre Befehlsstimme. Wenn Antonia wütend war, musste Fräulein Lauritsen einen Großputz machen, und anschließend musste der Gärtner die Bäume beschneiden und die Beete in Ordnung bringen. Selbst wenn es nicht im Mindesten nötig war.
Nella sah von dem Regal zum Bett, in dem Antonia lag und im Schlaf die Stirn runzelte. Es musste mehrere Jahre her sein, dass ihre Wut in einem Großputz geendet hatte, so staubig, wie alles hier drinnen war. Warum sie nach Fräulein Lauritsens Tod keine neue Haushälterin eingestellt hatte, war ein Rätsel, das Nella nicht vorhatte zu lösen.
Während Antonia weiterschlief, saß Nella in ihrem Sessel und dachte über die drei Versionen von Lady Nellas geschlossene Augen nach. Ihre Haut juckte, wie immer, wenn etwas nicht aufging. Irgendwann zwischen der Fertigstellung des Manuskripts und dem fertigen Buch war die heitere Antonia Lily zu der düsteren Antonia von Liljenholm geworden, doch der Text war derselbe geblieben. Hatten die Leute sich nicht gewundert? Offenbar nicht. Die ersten zwanzig Auflagen, Luxusausgaben, Taschenbücher und Übersetzungen standen jedenfalls in langen Reihen vom Fenster bis zur Tür. Nella stellte die Erstausgabe in dem Moment auf ihren gewohnten Platz zurück, als sie Antonias Blick bemerkte. Er schien in ihrem Schädel zu Eis gefroren.
»Warum wühlst du in meinen Sachen herum?«
Sich in ganzen Sätzen auszudrücken schien mehr Kraft zu erfordern, als Antonia hatte, doch sie fuhr fort. »Ich hatte dich gebeten, mir einen Gefallen zu tun, Nella.«
Eine Weile lag sie mit geschlossenen Augen da.
»Ich hatte dich um etwas gebeten, und jetzt tust du das genaue Gegenteil. Kannst du mir sagen, was ich getan habe, dass du so geworden bist?«
Nellas Augen huschten durch das Arbeitszimmer, und hätten sie weiter aus der Tür hinaushuschen können, hätten sie das sicher getan, weg von den Papieren, die überall ausgebreitet lagen. Doch stattdessen sammelte Nella schnell alles zusammen, setzte sich vor den Kamin und fütterte die Flammen mit den Seiten. Das Einzige, was sie versteckte, war die Todesanzeige, wozu auch immer sie die haben wollte. Ganz zuunterst lagen ein paar private Briefe. Einige auf Dänisch, andere auf Englisch. Die verbrannte sie auch, wo sie schon einmal dabei war, alles noch schwerer für sich zu machen, als es ohnehin schon war. Deshalb weiß ich nur, was Nella mir erzählt hat. Nämlich dass ein paar Briefe aussahen, als wären sie von Simon an Antonia. Von Simon an Antonia! Und die hat sie einfach verbrannt!
»Mutter hat mich gebeten, sie zu verbrennen, und das habe ich getan, kannst du das nicht verstehen?«, sagt Nella gewöhnlich, als wäre die Welt so verdammt einfach gestrickt. Sie regt sich schrecklich auf, wenn ich es mir erlaube, sie darauf hinzuweisen.
»Kannst du nicht wenigstens VERSUCHEN , dich in mich hineinzuversetzen?«
Ich kann sie beinahe hören! Aber es ist einfach unerträglich, daran zu denken, dass die Flammen hier direkt hinter mir einen Schatz nach dem anderen in Asche verwandelt haben, bis nicht einmal mehr eine erbärmliche Briefmarke übrig war. Ich habe mich natürlich selbst vom Keller bis zum Dach durchgewühlt, um sicher zu sein.
Als auch Antonia sich an diesem Abend sicher war, dass Nella ihre Anweisungen befolgt hatte, erahnte Nella einen Schatten in einem ihrer Mundwinkel. Ihre Lippen verloren langsam die Farbe, und Nella zog ihren Sessel näher zum Bett.
»Mutter? Kannst du mich hören?«
Zu Nellas Verteidigung muss ich sagen, dass sie einen klareren Kopf behalten hatte, als es den meisten in ihrer Situation gelungen wäre. So fragte sie Antonia zum Beispiel, ob Lily und sie die Fortsetzungsromane zusammen geschrieben hatten.
»Welche Fortsetzungsromane?«
Antonias Augen blinzelten kurz, dann wurden sie matt wie Rauchglas.
»Zu Anfang war alles anders«, flüsterte sie. »Bevor Lily den Verstand verloren
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