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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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hat, konnte sie ausgezeichnet schreiben. Doch dann haben die Gespenster von ihr Besitz ergriffen. Genau wie von unseren Eltern. Ich glaube, sie hat dagegen angekämpft, aber sie haben sie nicht entkommen lassen, sie …«
    Nella tat, was sie konnte, damit Antonia weitererzählte, doch ihre Lider waren bereits zugefallen. Zwischen ihren Atemzügen waren jetzt lange Pausen.
    »Wer war die Frau, die als Antonia Lily in den Zeitungen abgebildet war? Mutter? Kannst du mich hören?«
    Antonias Arme erinnerten an tiefgefrorenen Spargel. Nella ließ sie los. Antonias Kopf sank zurück auf das Kissen.
    »Sie hieß Karen.«
    »Karen?«
    Antonias Gesichtszüge wurden eins mit dem Kissenbezug, und die Pausen zwischen ihren Atemzügen noch länger. Bald war nur noch ein unregelmäßiges Röcheln zu hören. Nella starrte in den Kamin. Am liebsten hätte sie ihre vielen unbeantworteten Fragen hineingerufen, doch stattdessen ging sie in die Küche, schnitt das halbe Roggenbrot in Scheiben und lehnte sich auf einem der alten Stühle zurück. Sie schloss die Augen. Wenn sie nur nicht zu viel darüber nachdachte, fühlte es sich ganz so an, als säße Fräulein Lauritsen direkt hinter ihr und hielte sie aufrecht.

Ein langer Abschied
    Die Uhren waren sich über die Zeit einiger als über den Takt. Zwölfmal schlugen sie überall auf Liljenholm. Irgendwo hoch über ihrem Kopf hörte Nella plötzlich ein Rufen. Die Stimme kam ihr bekannt vor. Sie fuhr aus dem geblümten Ohrensessel hoch.
    »Laurits? Bist du das?«
    Kurz blieb Nella stehen. Sie lauschte so konzentriert sie konnte. Wäre ich sie gewesen, hätte ich mich wohl wieder hingesetzt, statt mich aus dem Arbeitszimmer zu schleichen. Antonia lag im Sterben, und Liljenholms verdunkelte Räume waren wohl kaum eine Erfahrung, die man nicht missen konnte. Doch Nella sieht Liljenholm offenbar ganz anders als ich, und das tat sie auch damals:
    »Wir können uns vielleicht darauf einigen, dass Liljenholm nie ein freundlich gesinnter Ort war, doch nachts kann man sich zumindest in der Dunkelheit verstecken«, hat sie erst vor Kurzem gesagt, als sie mit meinem Frühstückstablett und Simo im Schlepptau hereinkam. Er ist ein gutmütiger Hütehund, den Nella von einem der benachbarten Gutsbesitzer geschenkt bekommen hat, und ich mag ihn inzwischen sehr. Nicht zuletzt, weil er oft unter meinem Schreibtisch liegt und mir die Füße wärmt.
    »Wenn man lange genug das Gefühl gehabt hat, beobachtet zu werden, lernt man die Dunkelheit zu schätzen«, fuhr Nella fort. »Dann wird sie zu einer Kutte, die man überstülpen kann, wenn man etwas näher untersuchen muss.«
    »Aha.«
    Ich musste mich zwingen, sie nicht anzustarren. Sie hat oben im Turmzimmer Antonias alte Kleider aus der Zeit gefunden, als Lady Nellas geschlossene Augen die Liljenholmer wohlhabend gemacht hat. Und einen Teil noch älterer Kleider und Schmuckstücke von damals, als Hortensia und Clara noch lebten. Und du liebe Güte, das lila Kleid mit der Pelzstola, das sie heute trug, musste zweifellos ein Vermögen gekostet haben mit dem ganzen Taft und der Seide und was weiß ich. (Letzteres stimmt nicht ganz. Ich weiß es genau, denn ich bin mit guter Kleidung aufgewachsen, aber das ist eine andere Geschichte.) Tatsache ist, dass die Kleider Nella ausnahmslos so aussehen lassen wie ein Fräulein, das direkt aus dem 18. Jahrhundert in unser Wohnzimmer spaziert ist. Sie zog die Stola enger um sich. Entweder war sie an den Enden fadenscheinig oder sie war ungewöhnlich verstaubt.
    »Bist du bis zu dem schrecklichen Erlebnis gekommen …?«, fragte sie, und als ich nickte, ließ sie sich so schwer in den geblümten Ohrensessel fallen, dass es den Anschein erweckte, als würden ihre Beine unter ihr nachgeben.
    »Ja, das musste wohl kommen«, sagte sie und nickte öfter, als es nötig gewesen wäre. »Irgendwann musstest du ja zu dem schrecklichen Erlebnis kommen.«
    Das stimmte. Das musste ich wohl, und jetzt hoffe ich nur, dass es für Sie mehr Sinn macht als für mich, dass die Dunkelheit sich für Nella in dieser Nacht wie eine beschützende Kutte anfühlte. Irgendwo hoch über ihrem Kopf war erneut ein Rufen zu hören, es klang jetzt eindeutig wie Fräulein Lauritsens Stimme. Antonia murmelte irgendetwas drüben in ihrem Bett, doch es schien nicht gerade die Antwort darauf, was Fräulein Lauritsen hier machte.
    Nella hatte total vergessen, was für eine große Kunst es im Grunde genommen ist zu schleichen. Die Füße müssen ganz

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