Das Turmzimmer
man doch, oder?«
Ich sah mich gezwungen, sie darauf hinzuweisen, dass ich im Moment nach etwas ganz anderem suchte. Sie musste mir dringend ausführlicher erzählen, was sie gedacht und gefühlt hatte, als Antonia starb, damit ich mich nicht wie eine zweite Madame Rosencrantz in Vermutungen ergehen musste. Zu meiner Überraschung nickte sie.
»Es fällt mir wirklich sehr schwer, darüber zu reden, aber ich verstehe natürlich …«
Sie ließ sich auf dem nächstbesten Stuhl nieder, einem Ohrensessel mit lila Blumen. Und obwohl es mich genau genommen nichts anging, fragte ich trotzdem, warum sie diesen Hauch von einem Nichts trug.
»Ach, das …«
Sie strich ein paar lose Fäden von dem Stoff.
»Versprichst du, nicht zu lachen?«
Unter den dicken, welligen Haaren, die glänzten, als hätte sie sie in Olivenöl getaucht, sah sie mich aufmerksam an.
»Das hat mit meiner Großmutter Clara zu tun«, sagte sie. »Irgendetwas ist mit ihr, und ich finde nicht heraus, was. Mir ist heiß geworden, als mir das mit Laurits’ fehlendem Tagebuch klar geworden ist, und da habe ich das Kleid ausgezogen. Das Unterkleid hat Clara gehört. In den letzten Tagen habe ich Claras Unterkleider getragen, um ihr näher zu sein. Ja, amüsier dich ruhig! Du siehst zurzeit übrigens auch etwas merkwürdig aus.«
Nellas Blick wanderte an der braunen Hose mit den Bügelfalten auf und ab, die ich in einem der Schränke gefunden hatte. Wahrscheinlich hatte sie Simon gehört, genau wie das gestreifte Hemd und die dunkle Weste mit der Brusttasche. So gesehen fehlten mir nur noch eine Taschenuhr und ein Paar ordentliche Schuhe. Als Nella die Beine übereinanderschlug, musste ich den Blick abwenden.
»Trug man in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts so pikante Unterkleider?«
Nella zuckte mit den Schultern.
»Theoretisch gesehen kann dieses Unterkleid genauso gut von 1854 sein«, sagte sie. »Da hat Clara Horace geheiratet. Sie hatte übrigens genauso viele Hüfthalter und Strumpfbänder und Seidenstrümpfe, wie sie Unterkleider hatte. Sie hat sie in einem Stapel Hutschachteln mit ihrem Namen im Turmzimmer versteckt.«
»Und was wundert dich an Clara? Sodass du unbedingt in dieser Aufmachung herumlaufen musst, meine ich?«
Aus Achtung vor meinem Seelenfrieden knöpfte ich das auf der Klavierbank abgelegte Kleid so weit auf, dass Nella es über den Kopf ziehen konnte. Sie roch schwach nach Maiglöckchen.
»Ach, es hat bestimmt nichts zu bedeuten … Bist du so nett und knöpfst mich wieder zu? … Es ist nur so, dass Antonia und Lily eigentlich die Namen ihrer Mutter und ihrer Großmutter als zweiten Vornamen hätten tragen müssen. Das war damals so üblich, deshalb denke ich, dass Clara und Horace wohl kaum beide Töchter Elisabeth genannt hätten, wenn es nicht einen guten Grund dafür gegeben hätte.«
»Vielleicht mochten sie den Namen einfach?«
Die Knöpfe rutschten mir zwischen den Fingern weg, doch Nella fuhr unangefochten fort.
»Ich glaube eher, dass sie nach jemand anderem benannt worden sind.«
Fast konnte ich ihr Unterkleid durch das sittsame Taftkleid erkennen. Leider hatte es eine angeknüpfte Passe, wo ihr Busen hätte sein sollen. Sie schlug die Arme übereinander.
»Hörst du mir überhaupt zu?«
Ich antwortete, so ehrlich ich konnte, dass ich ihre Theorie unglaublich interessant fände.
»Aber du hast meine Theorie ja noch gar nicht gehört«, seufzte sie. »Sie kommt doch erst jetzt. Ich habe nämlich entdeckt, dass Laurits irgendwann an einer Stelle in einem Nebensatz Hortensias tote Freundin Elisabeth erwähnt hat, und bis jetzt ist sie die einzige Elisabeth, auf die ich gestoßen bin. Deshalb denke ich … Also, meine vorläufige Theorie ist die, dass sie nach ihr benannt worden sind.«
»Und wer ist sie?«
Nellas Kleid klang wie frisch aufgeblühte Tulpen, als sie sich erhob. Die Farbe war schöner als der Schnitt. Ein helles Lila oder Magenta , wie es in der Fachsprache heißt. (Ich weiß mehr von diesen Dingen, als man meinen sollte.) Sie durchquerte mit kleinen, ruckartigen Schritten den Raum.
»Eine Nachbarin, Elisabeth von Frydenlund, ein paar Kilometer den Weg hinunter«, sagte sie, als wüsste ich nicht, wo Frydenlund liegt. Wir hatten Simo von dort, es dürfte also nicht so schwer sein, sich daran zu erinnern.
»Laurits schreibt, dass Elisabeth ein Jahr vor Hortensia gestorben ist, und ich habe nicht die geringste Ahnung, warum sie das überhaupt erwähnt«, fuhr Nella fort. »Es kommt mir
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