Das Turmzimmer
die Idee gekommen, mich umzubringen. Herrgott noch mal, Antonia hatte schließlich zweiunddreißig Romane mit ihrer geliebten Schwester in der Rolle des Liebhabers geschrieben. Meine Verwunderung wuchs. In den nächsten Artikeln äußerte sich Antonia, soweit ich mir das ausrechnen konnte, zu Simon, obwohl sie ihn konsequent als meinen geliebten Mann bezeichnete und nicht beim Namen nannte. Konnte man den Artikeln trauen, war er in dem Jahr, in dem Lily starb, spurlos verschwunden. »Jetzt, wo Sie fragen, weiß ich tatsächlich nicht, wie ich weiterleben soll. Mit jeder Stunde schwindet meine Hoffnung, ihn wiederzusehen«, sagte sie mit einem Sinn für Melodramatik, von dem ich nicht wusste, ob ich sie dafür bewundern oder bedauern sollte.
Hinter den Ausschnitten steckte ein teurer Umschlag. Einer von denen mit Wasserzeichen und mit rotem Papier gefüttert, das raschelte, wenn man den Inhalt herauszog und auseinanderfaltete. Es bestand kein Zweifel. Der Brief war von Antonia von Liljenholm. Abgestempelt am 1. Februar 1915, da musste Antonia wohl ungefähr schon ein Jahr ohne ihren geliebten Simon gelebt haben. Auf der Rückseite stand eine Adresse, die vermutlich die ihre war. Antonia von Liljenholm lebte wohl kaum an einem anderen Ort als irgendwo auf Südseeland auf Gut Liljenholm, das ich noch nicht einmal vom Namen her kannte. Ich griff nach Papier und Stift. Schrieb mir für alle Fälle die Adresse auf und las den Brief mit immer größer werdenden Augen. Die spitze Schrift passte besser zu seinem Inhalt als alle Informationen, die ich bisher gesammelt hatte. Ja, Sie können genauso gut mitlesen:
Lieber Simon,
ich habe neulich die Heiratsanzeige in der Zeitung gesehen, und es freut mich, dass du und die kleine Karen das Glück gefunden habt. Schick ihr meine besten Wünsche. Was den Bescheid angeht, den du mir durch A. K. geschickt hast, muss ich gestehen, dass er mich verwundert. Du hast zugestimmt, Liljenholm zu verlassen, dichtzuhalten und niemals zu versuchen, Kontakt zu Nella aufzunehmen. Du weißt, was passiert, wenn du dich nicht an deinen Teil der Absprache hältst, nicht zuletzt in Verbindung mit deinem Verlag – doch das muss ich dir wohl nicht schreiben. Ich habe versprochen, mich Nella gegenüber ausschließlich positiv über dich zu äußern, und an dieses Versprechen halte ich mich natürlich. Sie nimmt die Veränderung gut auf und fragt nur selten nach dir oder »Lily«. Anfangs hatten Lauritsen und ich ein wenig Probleme, dass sie die Abwesenheit Letzterer akzeptierte, doch auf lange Sicht zweifle ich nicht, dass ihre Beseitigung für uns alle das Beste ist. Ich schicke dir das Manuskript für Das neunte Zimmer , sodass du es zum 1. Juli hast, wie besprochen.
Die freundlichsten Grüße an dich und Karen
Antonia
Ich starrte auf den Brief, bis die blaue Tinte vor meinen Augen zu einer Aquarellmalerei verschwamm. Hielt das Blatt gegen das Licht, wurde aber nur aus dem Wasserzeichen klüger, das einem Wappen glich und bestimmt auch eins war. Beseitigung? Vielleicht war ich einfach nur zu lange einem schlechten Einfluss ausgesetzt gewesen, doch in meinem Kopf klang das nach kaltblütigem Mord. Ich las den Brief noch einmal, diesmal langsamer. Es klang unleugbar so, als hätten Antonia und Simon Lily umgebracht. Simon? Ich konnte das mit meinem besten Willen nicht glauben. Außerdem wunderte mich der Ton des Briefs. Antonia klang einfach nicht wie eine Frau, die Simon einmal genug geliebt hatte, um ihn in ihren Widmungen die Liebe meines Lebens zu nennen. Und warum drohte sie ihm damit, den Verlag zu wechseln, wenn er sich seiner eigenen Tochter näherte? Denn darauf lief die Drohung doch wohl hinaus, die weiter zu vertiefen sie sich nicht berufen gefühlt hatte. Ich legte den Brief zur Seite und hätte beinahe ein kleines Detail übersehen, das mich die Augen nun aber weit aufreißen ließ. Warum in aller Welt, dachte ich, setzte Antonia Lilys Namen in Anführungszeichen?
In der zweiten Mappe fand ich die Antwort, ohne es zu begreifen. Jedenfalls nicht vor der kommenden Nacht, in der ich im Dunkeln das Ganze drehte und wendete, bis ich mit einem Schrei auf den Lippen hochfuhr. Doch jetzt greife ich den Ereignissen vor, denn in der nächsten Stunde war ich zunächst vollauf mit Lesen beschäftigt. Die Mappe enthielt nämlich vierundzwanzig graue Umschläge mit Simons Adresse auf der einen und dem Namen Lauritsen gefolgt von Liljenholms Adresse auf der anderen Seite. Da diese Lauritsen sich um
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