Das Turmzimmer
mündet, fiel mein Blick auf eine Frau, die mich schon längst gesehen hatte. Sie stand auf der anderen Straßenseite, vielleicht wartete sie auf jemanden. Unter normalen Umständen wäre ich schräg über die Kreuzung gegangen und hätte ihr zugeblinzelt. Ihr langer Blick und ihr schwarzes Kleid waren nicht misszuverstehen, und außerdem waren frischgebackene Witwen nicht zu verachten, obwohl Paula mit der Zeit zu einer Ausnahme geworden war. Ich verabscheute zutiefst die klammernde Abhängigkeit, die sie sich angewöhnt hatte, bevor ich die Verbindung löste.
Doch heute verlangsamte ich mein Tempo nicht, als ich schräg über die Straße Richtung Thorvaldsensvej lief. Der Schweiß rann mir den Rücken hinunter, und die Kleider klebten an meinem Körper. Natürlich bin ich mir darüber im Klaren, dass eine echte Dame so etwas nicht schreiben würde. Man schwitzt nicht, Agnes! Es ist einem warm! Ich kann Nella genau diese Worte sagen hören, aber hin und wieder beschreibt mir ist warm nicht im Mindesten den Grad an Hitze, den man tatsächlich empfindet.
Als ich meine schäbige Pensionstür hinter mir geschlossen und den Riegel vorgeschoben hatte, riss ich mir als Erstes die Kleider vom Leib. Bis auf die langen Unterhosen, die ich trage, weil sie sich sehr viel besser anfühlen als die furchtbare, mit Spitze besetzte Damenunterwäsche (furchtbar an mir, nicht an richtigen Damen, versteht sich). Anschließend zog ich meinen hellroten Frotteemorgenmantel an, eins von Lillemors weniger geglückten Geschenken, machte das Fenster auf, stellte fest, dass es noch genauso staubig wie am Vortag war, und setzte mich mit den gestohlenen Mappen auf dem Schoß auf mein Bett. Oder vielleicht war gestohlen das falsche Wort. Ihr Besitzer hatte mich schließlich selbst dazu aufgefordert, sie mitzunehmen, und dafür musste es einen guten Grund geben. Einen, der mit Antonia und dem Geheimnis und Simons Angst zu tun hatte, dachte ich, als ich vorsichtig die erste Mappe aufschlug.
Während ich las, verstand ich plötzlich sehr viel besser, dass Frau Hansen allmählich sowohl die Gesichtsfarbe als auch jede Lust abhandengekommen war, dass ich Simon dazu brachte, irgendetwas von Bedeutung zu erzählen. Wäre ich die Frau eines Mannes mit einem solchen Geheimnis, würde ich wahrlich auch unter Einsatz meines Lebens über ihn und den Aktenschrank wachen. Doch glücklicherweise war ich nun einmal keine Ehefrau. Ein Gedanke nahm in meinem Kopf allmählich Form an: Es kann einfach nicht wahr sein, was dort steht! So ist Simon nicht! Irgendwo muss es einen anderen Grund geben!
Es begann übrigens äußerst unschuldig mit Lilys Todesanzeige, die ordentlich ausgeschnitten war und zuoberst auf dem Stapel lag. Unsere geliebte Lily von Liljenholm (1884–1914) hat diese Welt verlassen. In tiefer Trauer, die Familie stand dort unter der berüchtigten Rose, die selbstverständlich nicht eine einzige Glocke in meinem Kopf klingeln ließ. Darunter fand ich die Bescheinigung über das Nutzungsrecht der Grabstätte von Lily von Liljenholm, aus der hervorging, dass das Nutzungsrecht bis 1929 bei Simon Hansen lag. Dem nächsten Dokument zufolge, das an das erste geheftet war, hatte er 1928 das Friedhofsamt um eine Verlängerung des Nutzungsrechts um zwanzig Jahre gebeten. Ich wunderte mich. Das letzte Dokument war von 1935, und darin teilte ein neuer Leiter des Friedhofsamts mit, dass man aufgrund der mangelnden Pflege beschlossen hatte, die Grabstätte einzuebnen. Die Grabstätte wird gekiest , stand da, doch das Nutzungsrecht erlischt nicht, es sei denn, Sie verzichten ausdrücklich auf das Recht auf die Grabstätte. Ich starrte eine Weile vor mich hin. Eigentlich müsste Antonia doch das Nutzungsrecht haben, dachte ich. Sie war trotz allem Lilys Schwester, während Simon nur ihr Schwager war, noch dazu ihr früherer Schwager. Und so wie Antonia über Lily schrieb, wenn ich denn die Liebesszenen in ihren Romanen richtig gedeutet hatte, dürfte doch gerade ihr am meisten daran gelegen sein, Lilys Grab zu pflegen. Warum also hatte sie damit aufgehört?
Ich blätterte weiter und stieß auf diverse Zeitungsartikel. In den ersten fünf äußerte Antonia sich zu Lilys Tod: »Ich bin geschockt. Ich hätte nie geglaubt, dass meine geliebte Schwester aus dem Fenster springen und ihrem Leben ein Ende bereiten könnte!« Das wunderte mich eigentlich auch. Wäre ich so geliebt worden, wie Lily von Antonia geliebt worden sein musste, wäre ich jedenfalls nie auf
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