Das Turmzimmer
meinem Rücken fragte Frau Hansen, ob ich ernsthaft glaubte, dafür bezahlt zu werden, Romane zu lesen. Simon rettete mich davor, mich entschuldigen zu müssen. Das wäre auch wahrhaft krank gewesen.
»Lies mir vor, Lily!«, befahl er, diesmal noch lauter, und ein ganz kleines Zucken seines Auges ließ mein Herz vor Freude springen. Er ist nervös, dachte ich. Nervös, aber auch zu irgendetwas entschlossen. Ich gab mir Mühe beim Vorlesen. An meiner Artikulation war nichts auszusetzen, auch wenn ich auf der sozialen Rangleiter zweifellos so weit unten stand, dass Frau Hansen mich kaum wahrnahm. Doch Antonia von Liljenholms Geschichte wurde für mich nicht lebendig, dazu war ich zu sehr mit einer einzigen Frage beschäftigt. Du hast doch wohl nicht den gleichen Plan wie ich, Simon Hansen? Ich sitze doch wohl nicht deshalb hier, um dich und deine Frau in den Schlaf zu lesen?
Denn genau das tat ich nach ein paar Kapiteln, die hauptsächlich in Wassermetaphern ertranken. Schon bald nickte Frau Hansen über ihrer geblümten Decke ein, während Herr Hansen den Kopf gegen die Nackenstütze lehnte. Ich erhob mich so lautlos, wie keiner der beiden es für möglich gehalten hätte. Wenn sie gewusst hätten, wie oft mir gerade diese Fertigkeit nützlich gewesen war. Der Aktenschrank hätte mich sicher verraten, wäre ich dem nicht zuvorgekommen. Es mochte zwar sein, dass ich in meiner Jugend für Lillemor und ihre Feinwäscherei zu tollpatschig gewesen war. Doch das hatte ich inzwischen mit meinem legendären Griff , wie Ambrosius ihn nannte, mehr als wettgemacht. Ich wünschte, er wäre in diesem Augenblick mit seinen Morphiumtropfen hier gewesen. Ein oder zwei Tropfen in Frau Hansens Sherry hätten mir alles erheblich erleichtert. Ich erstarrte. Das Schlagen der Uhr im Wohnzimmer nebenan klang metallisch durch die ganze Wohnung, und Frau Hansen rührte sich leicht. Ihre Lider zuckten, doch Gott sei Dank war sie an das Geräusch gewöhnt. Sie schlief sofort weiter. Meine Hände durchsuchten die Akten, wie ein Virtuose Klavier spielt. Ich schreibe das nicht, um mich hervorzutun. Die Wahrheit ist einfach die, dass ich genau wusste, wie Hände und Augen suchen müssen, zueinander verschoben, doch im gleichen Takt, sodass die Fingerspitzen die einzelnen Dokumente kaum berührten.
Ich fand Jahresabrechnungen, Rechnungen für dies und das, ein paar Briefwechsel, die mir nicht wichtig erschienen, eine Menge Verträge, und ganz unten steckte die Mappe, die zu finden ich gehofft hatte. Antonia stand in schiefen Blockbuchstaben darauf. Als ich sie hochhob, sah ich etwas, das mich die Mappe und damit auch meine große Chance fast hätte zu Boden fallen lassen. Simons Augen. Sie waren ganz und gar nicht geschlossen, sondern folgten mir konzentriert. Mein Mund öffnete und schloss sich wieder. Was ich gesagt hätte, wenn ich es denn gekonnt hätte, weiß ich nicht, auf jeden Fall war es nicht nötig. Mein Plan war ganz eindeutig auch seiner.
»Beeil dich«, mimte sein Mund, und ich folgte seinem Blick, mit dem er die nächste Schublade nahezu von alleine hätte öffnen können. Aus Erfahrung begann ich ganz unten und zog tatsächlich direkt eine verblichene Mappe heraus, auf der Lily stand. Seine Augen waren jetzt auf die Tür gerichtet. Ich hob die Hand, mein festes Zeichen für Warte , doch Simon kannte es nicht. Er sah nur beharrlich von mir zur Tür, und ich brannte darauf, ihm zu erzählen, wie wichtig es war, hinter sich aufzuräumen, sodass man selbst nicht einmal mehr sah, dass man dort gewesen war. Doch ich musste mich damit begnügen, es ihm zu zeigen. Die Schubladen ließen sich ohne einen Laut schließen, die Mappen waren stumm wie ein Grab, und in der Tür drehte ich mich ein letztes Mal um. Simons Blick war so traurig, wie ich mich in diesem Moment fühlte. Wenn Frau Hansen meinen Diebstahl entdeckte, würde zweifelsfrei die Hölle losbrechen. Ich hatte das deutliche Gefühl, dass Simon und ich uns nicht wiedersehen würden, wenn es nach ihr ginge, und ich tat etwas, das ich sonst nie tue. Völlig lautlos drückte ich einen Kuss auf meine Hand und winkte einen Gruß in seine Richtung.
Das Geheimnis
Noch nie habe ich den Weg zwischen dem Vodroffsvej und der Pension Godthåb schneller zurückgelegt als an diesem Freitagnachmittag. Die Mappen eng an den Körper gedrückt und mit wehendem Mantel, als wäre ich der feurige Liebhaber in einem von Antonia von Liljenholms Romanen. Wo der Danasvej in den H.C. Ørsteds Vej
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