Das ueberirdische Licht - Rueckkehr nach New York
Geschichte. Mein Gott, setzte sie dann dazu, ich konnte ja nicht ahnen, zu was für grauenhaften Dingen wir noch ausersehen waren.
Dann holte sie das Fotoalbum heraus und klärte mich beim Durchblättern auf. Georg Gabriel, Paul, Emil, Franz, Elisabeth. Waren die Kinder von David. Und die danach kamen. Hans, Ernst, Friedrich, Georg, Toni, Eva, Hedwig. Und danach. Und wer mit wem verheiratet. Ihre Kinder. Wer wann wohin. Wer noch lebte, wer gestorben war.
Wir »Honigleute«, sagte sie, waren damals sehr miteinander verbunden, ein richtiger Clan. Und auch seitdem wir über die ganze Welt verstreut sind, haben wir immer an dieser Bindung festgehalten. Nur der Schorschel ist aus diesem Verbund völlig verschwunden, nachdem er sich nach dem Krieg hinter den Eisernen Vorhang abgesetzt hat. Keiner hat das verstehen können, wir haben oft gerätselt, welche Motive ihn wohl dazu getrieben haben. Einbißchen Bohème macht doch noch keinen Kommunisten! Und weil wir nie wieder ein Lebenszeichen von ihm bekamen, haben wir ihn schließlich in der Formel Nobody had heard from him ever since begraben .
Daß die Familienbande zwischen »Mutti« und mir wieder angeknüpft werden konnten, war einer Kette unglaublicher Zufälle, aber ganz gewöhnlichen Umständen zu verdanken, wie sie in New York üblich zu sein scheinen. Die »Honigleute«, natürlich nur die älteren, die noch Deutsch lesen, waren durch ein paar Rezensionen in deutschen Zeitungen auf mein erstes Buch aufmerksam geworden, hatten es sich beschafft und in der Widmung an meinen Vater sofort den »Schorschel« wiedererkannt. Dazu traf es sich gut, daß Daniels Synagogennachbar ein Geschäftspartner von Mr. Neustadt von der »Aguda« ist, der Peter 1984 zum Annual Dinner nach York geholt und uns vorher in Berlin besucht hatte; er wiederum hatte unsere Adresse von Mr. Goldwasser zugespielt bekommen, dem wir ein paar Jahre davor in Moskau begegnet waren. So einfach ging das. Dann hatte »Mutti« mir einen Brief geschrieben, und kurze Zeit später saß ich bei ihr auf dem Sofa am Morningside Drive.
Erst erzählte sie mir die Episode mit dem Zahnputzglas und dann erst vom Schicksal ihrer Eltern, von dem mein Vater, wie von dem aller anderen, nie gesprochen hatte. Die Eltern verzichteten 1938 in Breslau zugunsten der beidenTöchter auf das Affidavit, weil sie nur zwei von diesen Einreisedokumenten beschaffen konnten, hatten also die Töchter ausreisen lassen und waren drei Jahre später von Breslau nach Theresienstadt deportiert worden und dort gestorben. Auf welche Weise, hat »Mutti« nie erfahren; sie zog es vor, daran zu glauben, daß es auf natürliche Weise geschehen sei. Erst nach »Muttis« Tod ist das Theresienstädter Gedenkbuch erschienen, in dem ihre Namen eingetragen sind:
Honigmann, Catherine
geb. 18.11.1880
deportiert am 31.8.42
gest. Theresienstadt 26.12.42
Honigmann, Franz Josias Dr.
geb. 29.12.1869
dep. 31.8.42
gest. Theresienstadt 16.9.42
Wenn »Mutti« von ihren Eltern und Theresienstadt sprach, fiel sie ins Englische, you know, the concentration camp , als könnte es vielleicht eine Verwechslung geben.
Auf deutsch erzählte sie von den Treffen der ehemaligen Breslauer in New York, bei denen sie sich Fotos und Filme von der Stadt ansahen, aus der alten Zeit, als sie noch dortleben durften, aber manchmal auch aus späterer Zeit, als sie nicht mehr dort leben durften. Einer der Nachgeborenen, eine Tochter oder ein Sohn, war auf »Spurensuche« nach Wrocl-aw, wie die Stadt nun heißt, gegangen und hatte Fotos mitgebracht. Er hatte die alten Adressen aufgesucht, von denen die meisten nach allem, was geschehen war, seit die Juden die Stadt verlassen mußten, und der Bombardierung der »Festung Breslau« natürlich nicht mehr auffindbar waren. Das war die grausame Abrechnung einer höheren Gerechtigkeit, bemerkte »Mutti« dazu: Dafür, daß sie uns wie Vieh ’rausgetrieben haben, sind die Deutschen dann selber aus Breslau vertrieben worden.
Weißt du, setzte sie dann dazu, meine Rachsucht und meine Bitterkeit haben mit den Jahren nachgelassen, aber zu Mitleid mit meinen ehemaligen Nachbarn, die unseren Demütigungen mit steinernen Herzen zugesehen und manchmal sogar applaudiert haben, reicht es noch lange nicht. Erst, als ich einmal bei einem »Heimatabend« ein Bild unserer alten Straße und des Hauses sah, in dem ich als Kind gelebt habe, wie hoch die Bäume geworden waren, so wie das sprichwörtliche Gras, das über alles wächst und
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