Das ueberirdische Licht - Rueckkehr nach New York
Stifter aus dem Regal entgegen. Eine Begegnung mit Adalbert Stifter in New York hätte ich nicht für möglich gehalten, aber weil das Buch doch nicht zufällig aus dem Regal gefallen sein kann, lese ich nun auf der Stelle den Waldgänger, die trostloseste aller Erzählungen gescheiterten Lebens, von der die deutsche Literatur so voll ist. Ich habe sie schon oft gelesen, und sie tut mir jetzt, mitten in Manhattan, genauso weh wie immer in Europa. Die Resignation und die Melancholie »unter dem klaren österreichischen Himmel« scheinen mir plötzlich sogar denen von Doctorows Helden unter dem überirdischen Licht von New York verwandt. »Jedes Ungeheure und Außerordentliche, welches sich in der Zukunft (...) vorgespiegelt hatte, war nicht eingetreten, jedes Gewöhnliche, was er von seiner Seele fernhalten wollte, war gekommen. (...) was er sonst anstrebte, erreichte er nicht, oder er erreichte es anders, als er gewollt hatte, oder er wollte es nicht mehr erreichen, denn die Dinge kehrten sich um, und was sich als groß gezeigt hatte, stand als Kleines am Wege, und das Unbeachtete schwoll an und entdeckte sich als Schwerpunkt der Dinge, um den sie sich bewegen.«
Auch wenn Stifter noch so viel vom Wald schreibt, höreich doch die geängstigte Stimme des hysterischen Großstädters, meine eigene Stimme.
Einmal wollte ich meinem ältesten Sohn das letzte Kapitel des Waldgängers vorlesen, um ihn von der Tiefe und Schönheit der deutschen Literatur zu überzeugen, die er, wie ich fand, nicht genug schätzte. Aber dann konnte ich es nicht, weil ich, kaum daß ich die ersten Zeilen lese, immer in Tränen ausbreche. Und als er mich verständnislos ansah, zitierte ich ihm den Satz eines wirklich abgebrühten Literaturmenschen, der gesagt hat, wer bei dieser Geschichte nicht heult, ist ein Unmensch.
Statt vorzulesen, erzählte ich ihm, wie wir, viele Jahre vor seiner Geburt, in einem Troß von Freunden auf Stifters Spuren gewandert waren und dessen Geburtshaus in Oberplan, das nun Horní Planá heißt, besichtigten und am nächsten Tag die Russen und ihre befreundeten Armeen in die Tschechoslowakei einmarschierten, es war nämlich der 20. August des Jahres 1968. Sieben Tage saßen wir in Stifters Geburtsort fest, ängstlich, ohnmächtig, empört, und das Geld ging uns langsam aus, bevor wir über viele Umwege, mit vielen Bussen, Bahnen, Autos, die alle völlig planlos fuhren, irgendwie immer ein Stückchen weiter kamen, manchmal in die richtige Richtung und manchmal in die falsche, manchmal auch im Kreis. Das einzig Geordnete, das es zu sehen gab, waren Panzerreihen, die sich vorwärts schoben. Wie wir sie verwünschten!
Schneesturm über Manhattan
Auf die Minute genau, wie in der forecast angesagt, Punkt 11 Uhr 30 hebt der Schneesturm über Manhattan an. Er kommt vom Meer und zieht Punkt 15 Uhr 30 weiter auf den Kontinent, auch das war genau so vorausgesagt. Ich interessiere mich sonst nicht besonders für das Wetter, denn in Europa ist es moderat, im Sommer nicht zu heiß, im Winter nicht zu kalt, es regnet oft und lohnt nicht weiter Beachtung. In New York aber spielt sich das Wetter in so dramatischen Zuspitzungen ab, daß man es einfach nicht ignorieren kann. Innerhalb von Minuten wechselt eine Jahreszeit zur anderen, eben war es noch Frühling, und schon fallen in einem gewalttätigen Einbruch rasende Wolken und ein Schneesturm über die Stadt her. Und auf der Straße bemerke ich, daß alle Leute sofort die passenden Sachen anhaben, nur ich laufe in den falschen herum; sie kennen das eben, die brüsken Wetterumschwünge, sie sind echte New Yorker, und neben ihrer Wohnungstür liegt offenbar immer genau die richtige Ausrüstung parat, passende Schuhe, Jacken, Mützen und Mäntel. Die Stadt selber hat sich ja innerhalb von Minuten völlig verkleidet, alle Gebäude, Straßen, Schriften und Schilder sind weiß zugeschneit, von Schnee verdeckt, einige größere Schneehaufen gleiten, das sind die wenigen Autos in den hohlen Gassen, der Schneehimmel hängt so tief, daß er die oberenStockwerke der Buildings abschneidet, Fußgänger schieben sich mit Mühe und gebeugt vorwärts. Ich weiß nicht, wann ich je so viel Schnee und so große Schneeflocken gesehen habe, noch finde ich es schön, aber ich ahne schon, wie nah die Wettergewalt dem Albtraum ist. Was bleibt den Bewohnern der Stadt anderes übrig, als die epileptischen Anfälle der Atmosphäre, die sie umgibt, so genau wie möglich vorauszuberechnen und anzuzeigen, und
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