Das ueberirdische Licht - Rueckkehr nach New York
Stadt und des Staates subventionieren zwar die Erhaltung der Volkskunst, die Trennung von Kirche und Staat aber wird peinlich eingehalten, Gehälter für Rabbiner müssen die Gemeinden schon selber aufbringen.
Nach dem Davnen gibt es, wie in der 6th Street und fast überall auf der Welt, einen Kiddusch. Das Wort davnen, unter aschkenasischen Juden gebräuchlich für beten, ist unklarer Herkunft, niemand weiß woher und wann es sich in die Umgangssprache eingeschlichen hat, und kein etymologisches Wörterbuch kann es erklären. Bei den »Leuten von Brzezan« besteht der Kiddusch aber nicht in einem Buffet wie in der Synagoge in der 6th Street, sondern wir setzen uns an Tische, von denen die Gebetbücher und verschiedene Tora-Ausgaben weggeräumt werden, der trennende Gazevorhang ist aufgezogen, nun wird sozusagen ein Speisewagen angehängt. Aus dem Kühlschrank werden Rote Bete und weißer Rettichsalat, gefillter Fisch und von der elektrischen Heizplatte der Tschulent serviert, alles wieder in Mengen, die selbst für amerikanische Verhältnisse übermäßig sind. Zwischen den Gängen, also zwischen Tschulent und noch mehr Tschulent, wird wieder ein Wort gesagt, eine kleine Betrachtung und Auslegungdes Wochenabschnitts, der heute »Wajischlach« heißt und vom Kampf Jakobs mit dem Engel handelt und wie er von diesem in Israel umgenannt wird, »der mit Gott ringt«. Das gibt natürlich viel Auslegung her. Das Wort spricht eine Frau, die ich nach ihrem Aussehen der Village Bohème zuordnen und nach ihrem Auftreten eine verrückte Nudel nennen würde, aber was sie, von verschiedenen Kommentaren ausgehend, sagt, hat Hand und Fuß, alle hören aufmerksam zu, nicken mit den Köpfen, auch der Rabbi aus Monsey und der Chossid, und stellen noch ein paar Fragen und diskutieren über den Engel, den Namen und über das »Ich lasse dich nicht, du habest mich denn gesegnet«. Dann essen wir weiter, wir haben ja noch gar nicht damit aufgehört. Plötzlich steht einer von den alten Brzezanern auf und singt, brüllt, bellt zuerst die Hatikwa , die israelische Nationalhymne, und danach God Bless America . Die Nummer macht er jeden Schabbes, erklärt man mir, alle lachen und klatschen und rufen Schkojach !
Noch ein Höhepunkt steht uns bevor. Benny, der zweitälteste der »Leute von Brzezan« und Präsident der congregation , wird in dieser Woche 89 Jahre alt. Zur Feier hat einer der zahlreichen Künstler der Gemeinde ein Porträt des verehrten Präsidenten gestaltet, und zwar als Halbrelief aus gehackter Leber. Es sieht ihm frappierend ähnlich. Ein Werk in der Art des Archimboldo, nur daß außer der gehacktenLeber auch die Oliven, sauren Gurken und Mohrrüben für Augen, Nase, Mund und Schnurrbart echt sind. Alle finden, daß die Wahl der Materialien sehr passend ist, weil Benny sein Leben lang Fleischer war. Der Künstler bedauert in einer kurzen Ansprache nur, daß die gehackte Leber, die er ansonsten als Material sehr reizvoll findet, naturgemäß keine lange Lebensdauer hat, und sowohl er als auch der geehrte Benny müssen nun mit ansehen, wie das Kunstwerk wenige Minuten nach seiner Enthüllung in den Mündern und Mägen der begeisterten »Leute von Brzezan« verschwindet, Auge um Auge, Backe um Backe. Vorher hat der Künstler es natürlich fotografiert. Der sehr verehrte Benny drückt dann seinen Dank und seine Rührung mit den Worten aus: Möge die Erinnerung an das Gehackte-Leber-Werk nie vergehen und der heilige Moment seines Verzehrs in den Herzen der Getreuen unserer »Schul der Söhne Jacobs, der Leute von Brzezan« für immer weiterglühen.
Amen.
Washington Heights
Wer aber das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose, oder was immer es denn gewesen ist, sehen will, der muß nach Washington Heights fahren. Dort hofft niemand mehr auf eine Renaissance. Da gibt es nur noch das Ende und nicht einmal einen Abschied.
Es gab eine Zeit, da wurde die Gegend wegen der vielen deutschen Juden, die dort lebten, »Viertes Reich« oder »Frankfurt on the Hudson« genannt. Schon seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts oder noch vorher waren sie in diese nördliche neighbourhood Manhattans gezogen. Deshalb stehen dort auch so viele in prächtigem Nudelmeier oder maurischem Stil erbaute Synagogen, die den Hauptpostämtern und Hauptbahnhöfen des deutschen Kaiserreichs zum Verwechseln ähnlich sehen. In eine davon, die Hebrew Tabernacle Synagogue and Congregation , habe ich eine überraschende Einladung erhalten. Ihr Rabbiner, Joel
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