Das ueberirdische Licht - Rueckkehr nach New York
denkmalgeschützten Gebäude erreicht,was zahlreiche Subventionen zur Folge hat, mit denen dieses Stück Volksarchitektur und Volkskunst gerettet und das lecke Dach in einer ersten Notfallbehandlung repariert werden kann.
Jonathan und seine Mitstreiter liegen ausgesprochen im Trend. Sie sind sogar Trendsetter, denn inzwischen ist Lower Manhattan wieder ganz groß herausgekommen. Außer den Juden sind auch viele andere zurückgekehrt, solche, die man young professionals nennt, sie haben Geschäfte, Restaurants und Yoga-Clubs eröffnet, Büros und Wohnungen hergerichtet und sind hier wieder eingezogen. Es sollen jetzt wieder ungefähr 53 000 Juden in der Lower East Side leben, meint Jonathan, »und OUR Shul ist das Symbol ihrer Renaissance und wir sind die Avantgarde«.
Und so sehen die »Leute von Brzezan« beim Freitagabend- Service dann auch aus: Natives und Newcomer, Village Bohème und schwarze Anzüge. Ein sehr breites Spektrum von der, sagen wir, klassischen Orthodoxie in Schwarz über die modern Orthodoxen im hellen Jackett bis zur Bohème im bunten Pullover, aber auch ein Chassid in voller Montur und mit Schläfenlocken fehlt nicht, er muß über die Brücke aus Williamsburg, wo die Chassidim wohnen, mindestens eine halbe Stunde herübergelaufen sein. Da sitzen einige ganz Alte, die noch aus Brzezan stammen müssen, und Holocaust Survivers, die erst nach dem Kriegherübergekommen sind, neben jungen Künstlern aus dem Village, middleaged Anwälten oder Ärzten und Angestellten der Stadt, die Pressesprecherin von Mayor Bloomberg soll auch dabei sein. Ich höre Englisch, Jiddisch, aber auch Spanisch. Diese sehr ungewöhnliche Mischung der verschiedensten Juden aller Arten und Gattungen ist es nämlich, die die Schul »funky« macht. Und weil dazu noch alles eng und provisorisch ist, nennen sie es »Shtiebel style«.
Laut der Einladung von Jonathan sollte der Morning Service am Schabbes um neun Uhr beginnen. Doch als ich in meiner deutschen Art und wie es mir Peter antrainiert hat, um Punkt neun in der Schul erscheine, ist noch kein Mensch weit und breit zu sehen. Außer Abie. Und wegen der Begegnung mit Abie lohnt sich die Pünktlichkeit. Abie ist noch ein echter Brzezaner. Sein wahres Alter kennt er nicht, oder behauptet das wenigstens; vielleicht so sechsinneinzig , sagt er. Englisch spricht er sowieso nicht, dafür ist er in all den Jahren, wie mir später die anderen erzählen, bis heute bei Regen und Schnee, bei Wind und Hitze jeden Morgen um 6 zur Stelle gewesen, um die Schul aufzuschließen und potatoniks und Kaffee vorzubereiten. Abie empfängt mich, als sei auch ich eine echte Brzezanerin, zieht mich auf einen Stuhl, setzt sich daneben und redet jiddisch auf mich ein. Schon gestern abend haben wir so kommuniziert, er auf jiddisch, ich auf deitsch , irgendwieverstehen wir uns dann schon. Ich nicke immer mit dem Kopf, erstens aus Höflichkeit, und zweitens kann ich mir die Lebensgeschichte, die er mir erzählt, in großen Teilen zusammenreimen. Mit zehn ist er mit seiner Mutter aus Polen nach Amerika gekommen, es muß so 1917 gewesen sein oder 1920, genau weiß er das nicht mehr, und seitdem hat er immer in der Lower East Side gelebt, ist nicht Millionär und auch nicht Professor und nicht mal irgendwo Angestellter geworden, hat dafür aber jeden Morgen die Schul aufgeschlossen, Kaffee und Potatoniks vorbereitet und in einer Ecke der Schul den Leuten dazu noch die Haare geschnitten. Gereist ist er seit 1917 oder 1920 nicht wieder. Nicht mal nach New Jersey.
Langsam trudeln die »Leute von Brzezan« ein, der Service geht los im Eisenbahnwaggon, das Pult vorne, auf dem die Tora gelesen wird, zieht als Lokomotive, dann kommt ein langes Männerabteil, dann, durch einen dezenten, bunt- bestickten Gazevorhang getrennt, die Frauen im hinteren Abteil, wo auch der Kühlschrank steht. Trotz der bunten Mischung versteht sich die Gemeinde als orthodox, keines der Gebete wird abgekürzt und auch nicht etwa in der Landessprache gelesen, die Trennung von Männern und Frauen ist durch den Gazevorhang beim Service eingehalten, und Frauen werden nicht zur Tora aufgerufen. Sonst würde auch der Chassid aus Williamsburg nicht hier beten und der Rabbi, der jetzt ab und zu einspringt und schließlicheine Reputation zu verlieren hat, nicht extra aus Monsey, N.Y., einer sehr orthodoxen Adresse, anreisen. Einen festen Rabbiner können sich die »Leute von Brzezan« noch nicht leisten, denn alle nur möglichen Departments der
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