Das unendliche Blau
tritt hinaus in den Flur. Sie schließt die Tür hinter ihm und lehnt sich mit dem Rücken dagegen. Sie atmet jetzt schwer. Zwei, drei Minuten bleibt sie so stehen. Dann geht sie langsam zum Fenster. Die Ginkgobäume bewegen sich im Novemberwind. Es ist, als würden sie ihr winken.
Eine Weile steht sie so da. Dann zieht sie ihre Stiefel aus. Sie geht ins Badezimmer, heizt den Ofen dort ein, drückt den kleinen Gummistöpsel in die Wanne und dreht den Wasserhahn auf. Sie findet ein Badepulver, das süßlich riecht und Unmengen an Schaumbläschen produziert. Das Erbe einer anderen Frau, das sich aufplustert und mit steigendem Wasserpegel über den Wannenrand kriecht.
Martha muss an den Geruch von Parfum auf Micheles Kopfkissen denken, damals, in der ersten Nacht, in der sie bei ihm schlief. Kurz streifen ihre Gedanken die Vorstellung, dass weitere Frauen folgen werden. Sie ist nicht neu, diese Vorstellung, sie kommt immer wieder zu Besuch und setzt alles dran, Micheles und Marthas Liebe als das zu zeigen, was sie ist – eine wunderschöne Momentaufnahme. Ein Foto, auf dem alles stimmt – Motiv, Tiefenschärfe, Belichtung. Die vollkommene Harmonie, eingefangen in einem einzigen Augenblick, der sofort Vergangenheit wird.
Aber ist das nicht im Grunde das Wesen der Liebe? Ihr Markenzeichen? Das fragt sich Martha, als sie Jeans, Pullover, Strümpfe, BH und Slip auszieht und auf einem Hocker neben dem Waschbecken ablegt. Sind die Versprechungen, die sich zwei Menschen für die Zukunft geben, nicht immer nur Ausdruck des Wunsches, es möge bloß nicht aufhören, was die Gegenwart zum Traum macht? Ist es nicht die Angst vor dem Aufwachen, die uns beteuern lässt, den anderen nie zu verlassen?
Der Spiegel ist beschlagen, daher gibt er nur Marthas Konturen wieder. Einen schmalen nackten Körper, weichgezeichnet durch Wasserdampf. Mit ihrem Zeigefinger malt sie ein M auf den Spiegel, daneben ein zweites. Und wie in ihrem Schulheft umgibt sie auch hier die beiden Ms mit einem Herz.
Es gefällt ihr, dass ihre Vornamen mit demselben Initial beginnen. Michele gefällt es auch, das hat er ihr am letzten Wochenende gesagt, als sie morgens im Bett lagen und Kaffee tranken und nach Gemeinsamkeiten suchten. Sie fanden dies und das. Als Kinder hatten sie beide Angst vor Gewittern. Später mieden sie Schulpartys, stattdessen lagen sie lieber zu Hause und lasen Hermann Hesse. Sie gaben den Stones den Vorrang vor den Beatles, bei den Beatles ließen sie allenfalls das
Weiße Album
durchgehen, ihr Lieblingssong darauf war
Fool On The Hill.
Ansonsten schwärmten sie für Jim Morrison und Lou Reed. Sie schrieben Gedichte und zeigten sie niemandem. Wenn sie mutig waren, gingen sie nachts auf den Friedhof. Manchmal fuhren sie auch Achterbahn, die ganz große mit den Loopings. Sie mochten gebrannte Mandeln lieber als Zuckerwatte, und an den Schießbuden schossen sie stets daneben. Irgendwann gingen sie dann nur noch mit ihren Kindern auf den Jahrmarkt und sahen denen zu, wie sie im Kettenkarussell abhoben, während sie selbst am Boden blieben und vom Warten kalte Füße bekamen.
Als Martha ihren großen Zeh ins heiße Wasser taucht, zuckt sie im ersten Moment zurück, doch dann lässt sie erst einen, schließlich den zweiten Fuß folgen. Sie gleitet hinein in den Schaum, legt ihren Kopf auf dem Wannenrand ab und schließt die Augen. Sie denkt an Silvio. An seinen Blick auf ihre Beine. An sein Lächeln, das verschwand, als sie ihm sagte, wie es um sie steht. An seine Freude darüber, dass sie ihn zum Abschied angelacht hat. Fünf Tage noch bis Samstag. Fünf Tage bis zu seinem Geburtstagsfest. Sie würde in diesen Tagen vieles in Ordnung bringen. Sie spürt ein Bedürfnis aufzuräumen, die Dinge an ihren Platz zu stellen, zu tun, was noch getan werden muss. Und dann wieder spürt sie Müdigkeit, weil allein der Gedanke an all diese Dinge sofort in Erschöpfung umschlägt.
Leise fährt sie mit ihrer rechten Hand durch den Schaum, lässt die Bläschen zerplatzen, bis dieses weiße federleichte Gebirge langsam, wie in Zeitlupe, in sich zusammenfällt und nur noch kleine Inseln auf der Wasseroberfläche bleiben. Martha hebt ihren linken Fuß, an den Zehen ist dunkelroter Lack, den sie vor ihrem Ausflug ans Meer aufgetragen hat und der nun hier und da abblättert. Sie würde etwas nachbessern, morgen oder übermorgen. Sie würde auch zum Friseur gehen und sich die Haarspitzen schneiden lassen.
Warum würde sie das alles tun? Sie weiß es
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