Das unendliche Blau
angekommen war, ging sie einmal zu dem Barbier in den Laden, stieß die Glastür mit dem dicken goldenen Griff auf, um ihn nach der Uhrzeit zu fragen. Sie weiß noch, dass er nicht mal zusammenzuckte, als sie ihn von hinten ansprach, sondern das Rasiermesser wie in Zeitlupe sanft durch den Schaum zog, um danach auf seine Armbanduhr zu sehen. Eine silberne Uhr mit großem Ziffernblatt. Seitdem grüßt er Martha, wenn sie vorbeikommt und er vor seinem Geschäft steht, um zu rauchen oder den Menschen auf dem Platz zuzusehen. Er lächelt nie, aber seine Miene verrät Gutmütigkeit. Ein Gesicht, das einlädt, ihm zu vertrauen. Nun ja, das bringt sein Job wahrscheinlich mit sich. Ein Barbier, dem die Leute nicht vertrauen, kann seinen Laden dichtmachen.
Auch jetzt hebt er kurz die Hand, und Martha muss plötzlich daran denken, dass sie in Deutschland, in der Fußgängerzone der Kleinstadt, wo sie seit Jahren ihre Einkäufe erledigte, niemand grüßte, wenn sie vorbeikam. Man nahm keine Notiz voneinander, sondern ging schnell seiner Wege. Auch sie hatte das getan, hatte sich im Tunnel ihres Alltags bewegt und sich immer nur beeilt. Wozu eigentlich? Um möglichst zügig durch dieses Leben zu kommen und dabei nicht mal den Versuch zu unternehmen, dem Dasein noch ein wenig mehr abzuringen als pünktlich bezahlte Rechnungen und rechtzeitig abgegebene Artikel für Zeitschriften, die nach spätestens drei Wochen ins Altpapier wanderten?
Ihr letzter Chefredakteur hatte ihr vor einigen Wochen eine Mail geschickt und wortreich bedauert, dass sie keine Reportagen und Interviews mehr für ihn machte. Niemand hatte ihm anscheinend gesagt, was mit ihr los war. Martha hatte zunächst den Impuls verspürt, eine höfliche und unverbindliche Antwort zu schicken. Doch dann nahm sie sich einen Abend Zeit, und sie schrieb diesem Mann, dessen Stimmungen eine geradezu fatale Abhängigkeit von der Auflage seines Blattes entwickelt hatten, eine lange Mail. Sie schrieb von Geschichten, die sich keiner traute zu veröffentlichen. Sie verwendete Worte wie Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Lüge und Larmoyanz, Beweihräucherung und Beschiss. Einen Moment zögerte sie, bevor sie auf »Senden« drückte, doch dann schickte sie ihren letzten großen Text an diese Redaktion auf die Reise. Danach hörte sie nichts mehr von ihrem ehemaligen Chef. Die Dinge würden weiter ihren Lauf nehmen. Ohne sie.
Ihre Gedanken trägt sie durch die Straßen. Zusammen mit dem kleinen Heißluftballon.
Bei
Zanarini
legt sie einen Zwischenstopp ein. Sie geht an die Bar und bestellt sich einen Spumante. Der Mann hinter dem Tresen zwinkert ihr zu, bevor er eine Flasche Rosé aus einem großen Eiskühler holt, mit schnellem Griff entkorkt und ein Glas vollschenkt.
»Gibt’s was zu feiern, Signora?«, fragt er und stellt ihr ein paar Tramezzini und Oliven daneben.
»Das Leben«, erwidert sie und nimmt einen Schluck.
»Ein guter Anlass«, sagt er und schenkt ihr ungefragt nach.
Der beste, denkt Martha. Und sie spürt, wie der Alkohol die Wirkung der Tabletten, die sie vorhin genommen hat, augenblicklich verstärkt. Den aufkommenden Schwindel schickt sie mit einer leichtfertigen Handbewegung weg. Jetzt noch nicht, denkt sie und sucht Halt in der verbleibenden Zuversicht.
Sie atmet tief durch. Genau so, wie Michele es ihr erklärt hat. Sie spürt, wie die Wellen durch ihren Köper fließen.
Ujjayi,
die siegreiche Atmung, nennen die Yogis das. Martha besiegt damit die Restbestände ihrer Angst. Lässt entweichen, was ihr die Luft abschnüren will.
»Möchten Sie noch einen?« Der Kellner zeigt auf ihr leeres Glas.
Sie schüttelt den Kopf und verlangt die Rechnung.
Als sie aus der Bar hinaus ins Freie tritt, ist es dunkel. Martha ist froh darüber, denn in der Dunkelheit bemerken die Passanten, die ihr entgegenkommen, ihre Tränen nicht.
[home]
18
E s ist Silvio, der ihr öffnet, als sie Minuten später bei Michele an die Tür klopft. Silvio mit seinem herausfordernden Blick – als wäre die Selbstsicherheit dort ein Dauergast, der sich von nichts und niemandem vertreiben lässt.
Die Lampe im Flur brennt hell, und Martha weiß, dass ihre Augen leicht gerötet sind. Sie vermutet sogar verräterisch zerlaufene Wimperntusche. Beherzt lächelt sie all diese Spuren weg.
»Ciao.« Er hält ihr die Tür mit einer ausladenden Bewegung auf.
»Danke.« Sie tritt an ihm vorbei in die vertrauten Räume.
Sie fühlt noch immer leises Unbehagen in seiner Nähe. Ein paar Mal
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