Das unendliche Blau
haben sie sich in den letzten Wochen gesehen. Michele war stets dabei. Die Orte, an denen man Silvio traf, waren Hörsäle an der Uni oder Museen oder Theater. Ab und an gingen sie auch ins Kino und danach auf ein Glas. Silvio trank viel, aber man merkte ihm den Alkohol nicht an. Er wurde immer redseliger und scharfzüngiger. Oft machte er Martha auch Komplimente. Michele spielte den Vermittler, wenn sie nicht entsprechend reagierte. Sie wurde den Eindruck nicht los, dass etwas in diesem Mann darauf lauerte, sie zu enttarnen. In seiner Gegenwart meinte sie eine gläserne Haut zu haben, durch die er direkt in ihr Innerstes sehen konnte.
»Wo ist Michele?«, fragt sie jetzt.
»Das sind schöne Stiefel«, entgegnet er lächelnd.
»Michele hat sie ausgesucht.«
»Aha. Er hatte schon immer einen guten Geschmack.« Er schließt die Tür hinter ihr. »In jeder Beziehung.«
Sie sieht sich um. Die große Stehlampe brennt und taucht das Zimmer in warmes Licht. Auf dem Sofa liegen Stapel bedruckten Papiers. Es riecht nach Kaffee.
Martha stellt die schwarz-weiße Hutschachtel auf den Boden.
»Was ist das?« Silvio zeigt auf die Box mit der roten Schleife.
»Ein Geschenk.«
»Für Michele?«
Sie nickt.
»Darf man fragen, was drin ist?«
»Fragen darfst du schon, aber ich werde es dir nicht verraten.«
Jetzt ist er erstaunt. Ein bisschen verärgert ist er auch, sie sieht es an dem leichten Stirnrunzeln. Und daran, dass sein Lächeln verschwunden ist. »Warum nicht?«
»Ich will nicht, dass du es vor ihm weißt.«
Er hat sich wieder gefangen. Das Lächeln ist zurück. »Verstehe.«
»Wirklich?«
»Nun ja, manchmal ist es eben besser, keine Geheimnisse auszuplaudern. Magst du einen Kaffee?«
»Ein Wasser.«
Er geht in die Küche, holt ein Glas aus dem Regal über dem Waschbecken, dreht den Hahn auf und lässt Wasser hineinlaufen. Er bewegt sich in dieser Wohnung, als ob es seine eigene wäre.
»Was ist das?« Martha zeigt auf die Blätter auf dem Sofa.
»Micheles Romananfang.
Nachsaison.
Er hat dir ja davon erzählt …« Silvio sammelt die bedruckten Seiten ein, um ihr Platz zu machen.
Sie bleibt stehen mit dem Glas in der Hand. Sie hat Michele in der letzten Zeit oft gefragt, ob sie mal hineinlesen dürfe, und er hatte nur genickt und es dabei belassen. Jetzt versetzt es ihr einen Stich, Silvio mit dem Manuskript hantieren zu sehen.
»Er wollte, dass ich’s mir ansehe, bevor du einen Blick darauf wirfst«, erklärt er.
Sie zuckt zurück, wie ertappt. Doch dann entspannt sie sich gleich wieder.
»Michele hat Respekt vor dir«, fährt er fort. »Vor deinem Talent. Im Internet hat er einige deiner Reportagen gelesen.«
Das hat sie nicht gewusst.
»Sie hätten so eine Intensität, deine Texte, meinte er. Sie haben ihm gefallen. Sehr sogar.« Er sieht erst auf ihre Beine, dann sieht er ihr in die Augen. »Mir übrigens auch«, ergänzt er.
»
Du
hast meine Geschichten gelesen?«
»Ist ja kein Verbrechen. Das Internet ist schließlich jedem zugänglich.« Er setzt sich aufs Sofa. »Du magst mich nicht, stimmt’s?«
»Bitte, Silvio …«
»Ich mag mich manchmal auch nicht, glaub mir.«
»Fällt mir schwer.«
»Wir tragen alle unsere Masken. Meine ist die des selbstgefälligen Philosophen.«
»Das ist auch wieder selbstgefällig.«
»Kluge Frau. Du hast übrigens die perfekten Beine für diese Schuhe. Aber du füllst die Stiefel noch nicht aus.«
»Das ist …« Sie sucht nach dem passenden Wort.
»Unverschämt?«, hilft er ihr.
Sie kann nur nicken.
»Ein Wort, das ich sehr liebe. Eines, das die Scham entlässt. Sich nicht aufhält mit höflichem Getue.«
»Ich wollte diese Schuhe erst nicht kaufen«, sagt sie vorsichtig.
»Aha.«
»Aber sie sind bequem.«
»Und sie sind sexy.«
»Was wird das hier?«
»Ein Gespräch zwischen einem Mann und einer Frau. Genau genommen ist es das schon.«
»Willst du …?« Schon wieder dieses Tasten nach Worten. Als seien ihr alle verlorengegangen.
»Ob ich dich anmachen will?« Er schüttelt den Kopf. »Nein. Du bist die Freundin meines besten Freundes. Da habe ich meine Prinzipien. Aber du bist anders als die Frauen, die er vorher hatte. Und … auch
er
ist anders, seitdem ihr ein Paar seid.«
Sie trinkt ihr Glas leer und stellt es auf dem Tischchen vor dem Sofa ab. Dann setzt sie sich, wobei sie etwas Abstand zwischen sich und Silvio lässt.
»Seit wann bist du eigentlich Single?«, fragt sie.
»Zu lange.«
»Und warum?«
Er lehnt sich zurück
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