Das unendliche Blau
von Bildern.
Lina als Fünfjährige, an Weihnachten, auf dem Schoß des Vaters. Lina, Martha, Hans am Frühstückstisch, mit Selbstauslöser aufgenommen, drei Menschen, die erwartungsvoll ins Objektiv der Kamera schauen. Lina mit ihrer Mutter bei der Einschulung aufs Gymnasium; da hatte sich ihr Vater bereits aus dem Bild geschlichen. Es war die Zeit, in der Martha seine Affären zugetragen wurden, von Freunden, die sich wohlmeinend nannten. Martha achtete immer darauf, dass Lina in ihrem Zimmer war, wenn sie mit Hans stritt. Aber die Worte fanden ihren Weg durch Wände und Türen. Und auch die Blicke, die zwischen den Eltern hin und her liefen, entgingen der Tochter nicht. Sie sah die Ohnmacht ihrer Mutter darin, und damals begann sie, ihren Vater für das zu verachten, was er in Marthas Gesicht hinterließ. Ihre Züge verhärteten sich. Sie weinte so gut wie nie, und Lina weiß noch heute, dass sie das als zehnjähriges Mädchen nicht verstand. Wenn einem etwas weh tat, dann weinte man doch, und irgendwann war es auch wieder gut. Aber hier wurde nichts wieder gut. Ihr Vater packte an einem Wochenende vor elf Jahren seine Sachen; da war Lina bei den Großeltern, und als sie wiederkam, war er weg. Und ihre Mutter biss die Zähne zusammen und kochte ihr Kakao und spielte mit ihr Mensch-ärgere-dich-nicht und fuhr sie zum Schlittschuhlaufen und ins Kino und ins Freibad. Alles sollte sein wie immer, und nichts war mehr wie immer.
Jetzt dreht sich Lina auf die Seite und zieht die Bettdecke über die Ohren. Wieder dieses Gefühl. Dieses Gefühl von damals: Nichts ist wie immer.
Das Klingeln des Telefons vernimmt sie nur von fern. Sie hört ihren Vater reden, und mit einem Blick auf den Wecker vergewissert sie sich, dass es bereits nach zehn Uhr ist. Sie hat fast fünf Stunden geschlafen; sie wundert sich selber darüber.
Kurz darauf klopft es an ihrer Zimmertür.
»Was ist?« Sie kommt einfach nicht ohne diesen unwirschen Unterton aus.
»Bist du schon wach?«
»Das hörst du doch.«
»Wir müssen reden, Lina.«
Mit einem Satz ist sie aus dem Bett, greift sich ihren Bademantel, der auf einem Sessel liegt, zieht ihn über, schlüpft in ein Paar Wollsocken und streicht sich einige Haarsträhnen aus der Stirn.
Sie reißt die Tür auf. Ihr Vater steht direkt vor ihr. Er hält das Telefon noch in der Hand.
»Ist was passiert?«, fragt sie und merkt, wie ihre Stimme taumelt.
»Da hat eben eine Ärztin aus der Uniklinik in Kiel angerufen.«
»Ich verstehe nicht …«
»Martha … deine Mutter … sie hat wieder …«
»Neue Metastasen?« Mit der Frage kollabiert die Stimme endgültig.
Er nickt. »Sie hat dir nichts davon erzählt?«
»Nein, nein, kein Wort.« Sie versucht, sich zu erinnern, die letzten Tage zurückzuholen. »Als ich aus Schottland zurückkam, war sie wie immer. Na ja, etwas stiller vielleicht … Aber ich hab das auf ihren fünfzigsten Geburtstag geschoben. An solchen Tagen sind ja die meisten Menschen ein wenig nachdenklich …«
»Sie war letzte Woche bei einer dieser Kontrolluntersuchungen.«
»Ja, das wusste ich, aber da sie nichts gesagt hat, dachte ich … Nun, bei den letzten Malen ist schließlich auch immer alles gutgegangen.«
»Die Ärztin hat gefragt, wer ich bin.«
»Und was hast du gesagt?«
»Ich sei Marthas Mann. Irgendwie stimmt das ja auch. Oder es hat zumindest mal gestimmt. Na ja, und sonst hätte diese Frau wahrscheinlich gar nichts rausgerückt.«
Lina nickt und sieht über seine Schulter hinweg aus dem kleinen Flurfenster, das in den Garten hinausgeht. Ein Hibiskus verblüht da draußen gerade, wirft seine violettblauen Blüten ab.
»Martha wollte sich noch überlegen, ob sie einer Chemotherapie zustimmt«, sagt Hans leise.
»Chemotherapie? Was heißt das?«
»Es geht um ein paar Monate. Ein paar Monate mehr oder weniger.« Er schluckt. »Deine Mutter hat nicht mehr lange …«
Lina sieht ihn ungläubig an. »Herrgott noch mal«, sagt sie schließlich laut, »hör endlich auf mit deiner Scheißdramatik. Sag mir jetzt klipp und klar, was los ist.«
Er dreht sich von ihr weg. »Sie wird sterben, Lina.«
Sie spürt, wie Tränen hochdrängen, doch sie blinzelt sie weg. »Gibt es denn … gibt es denn kein Mittel, das …?«
»Nein, nur Chemo. Lebensverlängernde Maßnahmen nennt man das.«
Er stützt sich auf dem Treppengeländer ab. Sie blickt auf seinen Rücken, der nicht mehr so gerade ist wie früher.
»Was hast du dieser Ärztin gesagt?«,
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