Das unendliche Blau
nur der erste.«
Sie bückt sich, um die Riemchen ihrer Sandalen zu öffnen, und zieht ihre Füße dann zu sich aufs Sofa. Die Knie hat sie angewinkelt, den Kopf legt sie darauf ab. Ihre Augen suchen seine Augen und stellen dann auf scharf. »Hattest du oft Liebeskummer?«
»Ich bin Experte auf dem Gebiet. Gäbe es einen Nobelpreis in dieser Disziplin, ich hätte beste Chancen, nominiert zu werden.«
»Woran liegt’s?«
»Ich war immer sehr eifersüchtig. Manchmal war ich schon eifersüchtig, bevor überhaupt ein Grund vorlag. Und um nicht verletzt zu werden, bin ich fremdgegangen. Habe im Grunde das getan, wovor ich selbst am meisten Panik hatte. Am Ende waren meist beide Frauen futsch. Die, die ich liebte und unbedingt halten wollte. Und die, mit der ich eine Affäre hatte, sowieso. Affären haben immer einen schalen Beigeschmack.«
»Ist das so?«
»Ja. Es kribbelt nur am Anfang, aber irgendwann kapiert man, dass es kein echtes Gefühl ist. Es ist nur das Sonderangebot eines Gefühls. Man greift zu, kauft es und merkt meist ziemlich schnell, dass es nach zwei, drei Wäschen die Farbe verliert und ausfranst und einläuft.«
»Du scheinst dich auszukennen.«
»Du nicht?«
Sie schüttelt den Kopf. »Na ja, mit Liebeskummer schon. Mit Affären weniger.«
»Hast du einen Mann?«
»Ich hatte einen.«
»Wo ist er hin?«
»Er hatte Affären.«
»Verstehe. Und? Hat er gefunden, was er gesucht hat?«
»Ich hab’s nicht weiter verfolgt.«
»Wie lange ist das her? Ich meine, seit wann seid ihr getrennt?«
»Die Scheidung war vor elf Jahren.«
»Und seitdem?«
Sie fährt mit dem Zeigefinger der rechten Hand langsam knieabwärts, als könnte ihr die Bewegung beim Nachdenken helfen. »Ich habe unsere Tochter aufgezogen und gearbeitet und mich um meinen kranken Vater gekümmert.«
»Männer?«
»Gab’s keine.«
»Niemanden?« Seine Überraschung ist echt. Sie merkt es daran, dass sein Mund ein klein wenig offen bleibt. Ihr fällt erst jetzt auf, dass er sehr breite Lippen hat, fast ein wenig zu groß für sein sonst eher schmales Gesicht.
»Nein. Ich hatte … nun ja, ich hatte anderes zu tun.«
»Liebe ist doch kein Zeitvertreib.«
»Aber sie hält einen von wesentlichen Dingen ab. Sie raubt einem den Verstand. Man kann nicht mehr klar denken, nicht mehr arbeiten, nicht mehr …«
Sein Mund unterbricht sie, macht Schluss mit dem, was sie an Erklärungen auffährt.
Sie spürt Lippen, die sich auf die Suche nach ihren begeben. Sie tun das langsam, als würden sie Fühler ausstrecken. Das Letzte, was Martha sieht, bevor sie die Augen schließt, sind Micheles Lider, die ein wenig flackern. Vielleicht ist es auch nur das Kerzenlicht, denkt sie, bevor sie nichts mehr denkt. Hineingleitet in einen Raum, zu dem Gedanken keinen Zutritt haben.
Ihre Lippen beginnen vorsichtig mitzuspielen, heben hier, an diesem zweiten Tag in dieser fremden Stadt, ungläubig wieder auf, was sie vor vielen Jahren mit Endgültigkeitsanspruch in die Vergangenheit verabschiedet haben.
Die Minuten ziehen sich zurück in die Bedeutungslosigkeit, während Micheles Zungenspitze Marthas Zähne findet, einen nach dem anderen, um sich irgendwann ihre Zunge zu holen, in Zeitlupe, als wolle sie das Jetzt in seiner Fülle erfahren, jeden Winkel davon auslecken. Als sie sich erstmals schmecken, merkt Martha, wie viel Durst sie eigentlich gehabt hat. Mit ein paar Tropfen hat sie sich gerade mal am Leben gehalten. Und auf einmal will sie nur noch trinken. Ihre Zunge gibt zurück, was sie bekommt, fährt über seine, unter seine, neben seine, offenbart Neugier, Übermut, Entdeckerlust, kundschaftet ganze Landschaften in ihm aus und überlässt ihm im Gegenzug ihre.
Wie von selbst wird heftiger, was zögerlich begonnen hat, und als sie für Momente voneinander ablassen, lachen sie, als würde sie selbst überraschen, was da gerade mit ihnen passiert.
Immer noch lachend bringen sie ihre Hände ins Spiel, fassen an und streicheln und fühlen. Sie rollen vom Sofa herunter, während ihre Finger zunächst Nacken erspüren, winzigste Härchen dort aufstellen und wechselseitig Zittern auslösen. Sie helfen einander dabei, sich auszuziehen. Jeans, Bluse, Shirt werden zu Knäueln auf dem Boden. Kleiderinseln, die vorerst niemand mehr ansteuern will. Die Unterwäsche behalten sie noch an. Da ist es wieder, dieses Dehnen, dieses Weiten des Augenblicks, um ja nichts von dem zu verschenken, was die Gegenwart zum Fest werden lässt.
Martha sieht
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