Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das unendliche Blau

Das unendliche Blau

Titel: Das unendliche Blau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Hohberg
Vom Netzwerk:
ihre Blätter.
    »Sie sind in sich selbst getrennt, hat Goethe mal über die Blätter geschrieben«, nimmt Michele Marthas Blick auf. »Fühlst du nicht, dass ich eins und doppelt bin …«
    »Die berühmten zwei Seiten?«
    Michele überlegt und sieht sich um. Er findet Streichhölzer auf dem Tisch und zündet die Kerzen an. Die Stehlampe mit dem goldgelben Schirm lässt er ausgeschaltet. »Ich glaube, er hat eher an Liebende gedacht. Es heißt an anderer Stelle noch: Sind es zwei, die sich erlesen, dass man sie als eines kennt.«
    Sie sagt nichts.
    »Ich hab mich gefreut, als ich hier einzog und die Bäume in meinem Hinterhof sah. Ein paar Blätter habe ich gepresst, dann auf Seidenpapier gelegt und in einen Bilderrahmen gesteckt. Ich mag dieses alte Gedicht.«
    »Wie lang wohnst du schon hier?«
    »Ein gutes Jahr.«
    »Seit der Trennung von deiner Frau?«
    »Francesca hat dir davon erzählt?«
    »Sie hat’s angedeutet. Und dass du deinen Sohn sehr liebst, hat sie gesagt.«
    Er setzt sich auf das Sofa und hält ihr beide Hände entgegen. »Komm zu mir, Martha.«
    Ihr Herz macht Ausfallschritte. Erstaunt registriert sie, dass sie beginnt, ihn zu genießen, den Tanz, der da in ihrem Inneren anhebt. Als sie sich neben Michele fallen lässt, atmet sie hörbar aus. Den leichten Husten, der aufkommen will, schluckt sie schnell weg.
    Er lehnt sich zurück, verschränkt die Hände am Hinterkopf und spielt mit dem Gummiband, das seine Haare nur noch lose zusammenhält.
    »Diese zwei, die eins sind … Glaubst du daran?«, fragt sie leise, Weichzeichner in der Stimme.
    »Natürlich.« Die Antwort kommt schnell. Wie sein Lächeln. »Hey, was wären wir ohne diesen Glauben?«
    »Aber …«
    »Darf ich dich mal etwas fragen?«
    »Das tust du doch schon den ganzen Tag.«
    »Aber dies ist eine sehr persönliche Frage.«
    »Nur zu.«
    »Wovor hast du Angst?«
    Sie zuckt zusammen. Verschränkt ihre Finger. Bildet Fingerknoten, so dass die Knöchel weiß hervortreten.
    »Du atmest sehr flach, Martha.«
    Sie sieht ihn an. Ein Blick, der den Notausgang sucht.
    »Schließ die Augen.«
    Ihr wird schwindlig von der Schwärze, die sie überfällt.
    »Jetzt lehn dich zurück. Lass dich einfach in die Kissen fallen. Hol tief Luft. Pump sie richtig rein in deinen Bauch. Lass ihn groß und rund werden. Schick die Luft hoch in die Lungen, in jede einzelne Rippe, bis zu den Schultern …«
    Sie tut, was er sagt. Sie fragt nicht, warum, sie befolgt seine Anweisungen. Das Denken blendet sie aus.
    »… und nun raus damit. Raus mit allem. Weg mit der Luft. Weg mit dem ganzen Mist. Los, trau dich.«
    Der Seufzer kommt von allein, gleicht einem Stöhnen, und im selben Moment will sie ihn schon wieder zurückholen, weil er ihr so unpassend erscheint, aber er ist draußen, läuft im Raum herum, als hätte ihn jemand freigelassen.
    Michele lacht. »Noch mal, komm. Das geht besser.«
    »Was wird das hier?« Sie schnappt nach Luft.
    »Grundkurs in Yoga.«
    »Du gibst Unterricht, oder?«
    »Aha, die Journalistin rettet sich in das, was sie kann. Sie stellt Fragen.«
    »Vielleicht rettet sich hier jeder von uns gerade in das, was er kann.«
    »Guter Gedanke.«
    »Du hattest übrigens recht eben.«
    »Womit?«
    Sie schließt die Augen, atmet wieder tief ein und mit einem erneuten Seufzer aus. »Mit der Angst«, sagt sie dann.
    »Ich weiß. Ich spüre so was.«
    »Wie das?«
    »Weil ich es von mir selbst kenne.«
    Für Momente sagt keiner von ihnen etwas. Eine Kerze auf dem Tisch wird unruhig.
    »Ich hab viel Schiss gehabt in meinem Leben«, fährt er schließlich fort. »Vor Frauen, vor der Verantwortung, vor irgendwelchen Pflichten, die ich meinte erfüllen zu müssen. Mein Gott, wie oft hab ich Anlauf genommen und dann gekniffen.«
    »Nie was zu Ende gebracht?«
    »Wenn du so willst, nein. Mein ganzes Dasein ist eine einzige Aneinanderreihung von Anfängen. Ich bin großartig, wenn’s um Prologe geht.«
    »Na ja, Sonnenaufgang ist schließlich auch schöner als Sonnenuntergang.«
    »Sag das nicht. Ich hab mein erstes Mädchen geküsst, als die Sonne sich ins Meer verabschiedete. Hoffnungsloser Romantiker, damals schon.«
    »Wie alt warst du?«
    »Sechzehn. Sie hieß Laura und ging eigentlich mit einem Jungen aus der Klasse über mir. Tja, wenn man’s genau nimmt, kam selbst dieser erste Kuss über den ersten Akt nicht hinaus. Die Sonne sank ins Meer, und am nächsten Tag sank sie wieder in seine Arme.«
    »Tut weh, der erste Liebeskummer.«
    »Nicht

Weitere Kostenlose Bücher