Das unendliche Blau
Männer allein in Asien …«
»Na ja, es gab zwei, drei Strandbekanntschaften.«
»So nennt ihr das also.«
»So haben wir das genannt, ja. Wir hatten unseren Spaß, die Mädchen auch. Aber die meiste Zeit haben Silvio und ich über die großen Religionen philosophiert. Wir waren im Morgengrauen in Borobudur …«
»Wo?«
Er sieht sie überrascht an. »Geographie und Geschichte und Religion? Null Punkte.«
»Erwischt, Herr Lehrer. Gibt’s jetzt Strafarbeit?«
»Ja, die Höchststrafe.«
»Und die wäre?«
»Du wirst dazu verdonnert, mit mir die Welt zu bereisen.«
Sie sieht auf das Meer und den Mond. »Wo ist der Wein, Michele?«
Er lacht. »Auf dem Rücksitz.«
»Hast du einen Korkenzieher dabei?«
»Brauchen wir nicht. Die Flasche hat einen Schraubverschluss.«
»Dieses neumodische Zeug ist irgendwie auch praktisch«, erwidert sie und greift hinter sich. »Halt mal an. Da vorn ist ein Parkplatz.«
Er geht vom Gas und setzt den Blinker. Ein alter, bunt bemalter VW -Bus mit Peace-Zeichen steht da, als sei er vor langer Zeit dort abgestellt und vergessen worden. Ansonsten sind sie allein.
Sie steigen aus und gehen über Holzbohlen an den Strand. Den Wein hat Martha mitgenommen. Sie laufen ein paar Schritte, bis sie ein Ruderboot finden, das jemand mit dem Rumpf nach oben im Sand abgelegt hat. Sie setzen sich auf das Boot. Michele schraubt die Flasche auf und hält sie Martha hin.
Sie nimmt einen großen Schluck und gibt sie ihm zurück. »Und nun erzähl mir von Boroba … wie hieß das noch?«
»Borobudur. Es heißt Borobudur und ist eine der größten buddhistischen Tempelanlagen Südostasiens. Auf Java. Grandios, sag ich dir. Eine riesige Pyramide. Wir waren vor Sonnenaufgang da, bevor die Busse mit den Touristen kamen. Diese Reliefs werde ich nie vergessen und den Blick von ganz oben. Nur wir zwei. Silvio und ich und viele, viele Buddhas. Damals beschlossen wir, Yogis zu werden.«
»Silvio macht auch Yoga?«
»Ja.«
»Er wirkt gar nicht so.«
»Noch ’ne schlechte Schulnote, meine Liebe.«
Sie runzelt die Stirn.
»Diesmal in Menschenkenntnis«, erklärt Michele, trinkt von dem Wein und setzt die Flasche zwischen seinen Knien ab. »Du unterschätzt Silvio.«
»Mag sein. Ich hab ihn ja nur zweimal erlebt. Er kam mir immer etwas großspurig vor.«
»Er
ist
großspurig. Er ist auf einer großen, breiten Spur unterwegs. Der Mann kennt keine Grenzen, keine Enge. Er ist offen und neugierig und blitzgescheit.«
Sie legt ihren Kopf auf seiner Schulter ab. »Wo wart ihr noch, ihr zwei?«
»Auf Bali. Das ist jetzt über zwei Jahrzehnte her. Damals war’s noch nicht die Insel der Touristen, sondern wirklich die Insel der Götter. Wir haben tagelang in einem Dorf in den Bergen verbracht und eine Bestattungsfeier miterlebt. Es war heiß und feucht und laut. Große Tierfiguren aus Holz hatten die Leute aufgebaut, in die sie die blank geputzten Knochen ihrer verstorbenen Angehörigen packten.«
»Die Knochen?«
»Ja, die Familien sparen Jahre, bis sie das Geld für so eine Zeremonie zusammenhaben. In der Zwischenzeit sind die Leichname verwest.«
Martha greift nach der Weinflasche und trinkt. Sie verschluckt sich und hustet.
Michele klopft ihr auf den Rücken. »Ich weiß, das hört sich für uns Mitteleuropäer komisch an. Aber seitdem ich dort unten war, habe ich eine andere Einstellung zum Tod.«
»Vielleicht hab ich da was verpasst«, sagt sie leise.
»Die Menschen sind so fröhlich. Sie feiern und singen und tanzen und essen tagelang. Zum Schluss werden die hölzernen Tierstatuen in Brand gesetzt, damit die Seelen der Verstorbenen in einen anderen Zustand übergehen, frei werden.«
»Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?«, fragt sie und zeichnet mit der Spitze ihres Schuhs Kreise in den kühlen Sand.
»Ich denke, dass die Seele eine Art Energie ist, die fortbesteht und sich irgendwann eine neue Manifestation sucht.«
»Wiedergeburt?«
»So was in der Art, ja. Da kann die Naturwissenschaft mit noch so vielen angeblich handfesten, unverrückbaren Thesen dagegenhalten. Es gibt Dinge, die sind fühlbar, aber nicht mit Fakten und Zahlen fassbar. Damals auf Bali haben wir das erste Mal eine Ahnung davon bekommen.«
Sie spürt die Wirkung des Weins. Sie hat schon lange nicht mehr so viel getrunken. »Warum hab ich dich nicht früher getroffen?« Sie fragt mehr sich selbst als ihn.
Er antwortet trotzdem. »Weil alles seine Zeit hat, Martha. Eine Weile fühlte ich mich nach meiner
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