Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition)
hatte, es nicht zu tun.«
»Nein, Alex. Ich werde ihm nichts sagen. Aber vielleicht solltest du es tun. Ich finde, du solltest so bald wie möglich mit ihm darüber reden. Sei einfach ehrlich zu ihm. Du wirst merken, dass es danach schon ein bisschen leichter wird.«
Dr. Enderby hatte recht. Mr. Peterson hielt sich bemerkenswert gut. Zu gut. Er sah den Tatsachen offen ins Auge. Seine Reaktion war das genaue Gegenteil von meiner. Er war in der Lage, seine Krankheit anzunehmen und auch die Einschränkungen, die sie bedeutete. Er sagte mir jeden Tag, wie es ihm ging. Er hielt mich immer über seine Symptome auf dem Laufenden. Sie waren zu dem Zeitpunkt noch relativ unerheblich, aber er war jetzt eher in der Lage – oder willens –, die kleinen Signale zu entdecken, die sich schon seit einigen Monaten bemerkbar machten. Aufstehen und Hinsetzen waren mit Mühe verbunden, genauso wie Essen oder das Aufheben der Post – alles, was mit dem Gleichgewichtssinn und der Hand-Auge-Koordination zu tun hatte. Im Allgemeinen waren die Symptome morgens und spät am Abend am schlimmsten. Mr. Peterson meinte, wenn er am Morgen die Treppe hinuntergehe, sei er sich manchmal sicher, dass Gott sich einen Scherz mit ihm erlaube. Ich fand es gut, dass er die Sache so humorvoll nahm, aber noch brachte ich es nicht über mich, auf dieselbe Art und Weise zu reagieren. Es kam mir so gezwungen vor. Wenn ich mir Mühe gab, konnte ich mir ein schwaches Lächeln abringen.
Seine Sehstörungen waren immer noch das deutlichste und lästigste Symptom. Er meinte, der Versuch, die Augen auf etwas zu richten, fühle sich so an, als habe er einen toten Winkel. Da er jetzt wusste, was los war, konnte er besser darauf achten, aber er musste sich dafür gezielt anstrengen. Die Augen nach oben oder unten zu senken war für ihn keine natürliche, automatische Reaktion mehr. Es war zu einer Handlung geworden, die Konzentration, Planung und Überlegung erforderte, darum ließ er meistens mich fahren, wenn er einkaufen oder zur Post musste. Meine Fähigkeiten als Autofahrer wurden nicht länger infrage gestellt – wenigstens was diese kurzen Wege betraf –, und es schien äußerst unwahrscheinlich zu sein, dass wir im Dorf von einer Streife angehalten werden würden. Polizisten waren in Lower Godley ein seltener Anblick. Mr. Peterson meinte, für den Fall, dass doch mal einer auftauchen und uns kontrollieren würde, würde er die volle Verantwortung übernehmen. Ich könne auf Unwissenheit plädieren oder behaupten, er habe mich dazu gezwungen. Angesichts seines Zustandes würde ihn wohl kein Richter mehr zu einer Gefängnisstrafe verurteilen, und wir beide waren uns einig, dass Sicherheit Vorrang hatte.
Mr. Peterson machte zwar beim Autofahren Zugeständnisse, nicht aber beim Lesen. Trotz seines stetig abnehmenden Sehvermögens – oder vielleicht gerade deswegen –, war er entschlossen, den Kurt-Vonnegut-Leseklub bis zum Ende durchzuführen. Er wollte nichts davon hören, als ich vorschlug, die Sache abzubrechen. Als wir bei Zeitbeben ankamen, dem letzten Roman auf der Leseliste, die ich vor vierzehn Monaten ausgearbeitet hatte, konnte er nur noch in kurzen, fünf- bis zehnminütigen Etappen lesen, und auch nur zu bestimmten Tageszeiten, gewöhnlich zwischen neun und zwölf Uhr vormittags und drei und sieben Uhr nachmittags. Davor oder danach war es eine Qual für ihn. Er musste bereits mit seinem Finger die Zeilen nachfahren, wie ein Kind, das Lesen lernt. Aber er hielt durch. Er brauchte fast einen Monat, aber als unser letztes Treffen stattfand, war er fertig. Er wusste, dass es das letzte Buch war, das er jemals allein lesen würde.
Natürlich wusste im Leseklub niemand außer mir und Dr. Enderby von seinem Zustand. Wir waren immer noch die Einzigen, die die Wahrheit kannten. Auch als ich über die Verleugnungsphase hinaus war, hatte ich keine Lust gehabt, meiner Mutter davon zu erzählen, obwohl Mr. Peterson mir mehrmals versicherte, dass er nichts dagegen hätte. Er schien zu glauben, es sei wichtig für mich, mit ihr zu reden. Aber so weit war ich noch nicht. Die Realität anzuerkennen war eine Sache. Jemandem zu erklären, was geschah – und geschehen würde –, war etwas völlig anderes. Dann wäre alles auf einmal zu real. Und ich fragte mich, ob dies vielleicht auch der Grund war, warum Mr. Peterson so hartnäckig über seine Krankheit schwieg.
Ich hätte erwartet, dass er es nach einer Weile – nach ein paar Monaten spätestens – auch
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