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Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition)

Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition)

Titel: Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gavin Extence
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alles übereinander zu wissen, was wichtig war (in der Regel drei Dinge). Mehr musste man nicht wissen. Alle wussten, dass Mr. Peterson ein zurückgezogen lebender Vietnamveteran war, dessen Frau an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben war. Alle wussten, dass meine Mutter eine Wahrsagerin war und eine alleinerziehende Frau mit komischen Ansichten und komischen Haaren. Und alle wussten, dass ich von einem Meteoriten getroffen worden war und deshalb einen Dachschaden hatte und manchmal Krampfanfälle.
    Das stimmte alles. Aber das war nicht die ganze Wahrheit.
    Mr. Petersons Haus war nicht düster und staubig, wie ich erwartet hatte. In den hinteren Räumen war es sauber und ordentlich, und obwohl es ein trüber Tag war, war das Wohnzimmer lichtdurchflutet, denn das große Fenster ging hinten in den Garten hinaus. Es gab zwei Lampen, hohe Bücherregale und Kunstdrucke an den Wänden. Und auf einem großen Bodenkissen döste Mr. Petersons Hund. Er schaute hoch und schnüffelte neugierig, als ich eintrat. Dann klappte er die Augen wieder zu und schlief weiter. Er war sehr alt und verbrachte daher die meiste Zeit mit Schlafen. Später erfuhr ich, dass er vor ein paar Jahren aus dem Tierheim geholt worden war. Ein Teil seines Ohrs fehlte, und er hieß Kurt, nach Kurt Vonnegut Jr., dem Lieblingsschriftsteller von Mr. Peterson, der vor zehn Tagen gestorben war. Mr. Peterson fand es in Ordnung, einen alten Hund aufzunehmen, denn alte Hunde brauchten nicht mehr viel Bewegung und waren dankbar für ein warmes Plätzchen, wo sie schlafen konnten. Als ich fragte, was für eine Art Hund Kurt sei, meinte Mr. Peterson, er sei ein Mischling.
    Nur wenige Meter von Kurt entfernt befand sich der Gegenstand, der mich am meisten überraschte, nämlich ein sehr neuer, sehr glänzender Computer. Er stand neben einem großen Flachbildmonitor auf einem Schreibtisch. Aus irgendeinem Grund hatte ich angenommen, dass ich mich mit einer dieser uralten Schreibmaschinen würde abkämpfen müssen. Aber manchmal haben die Leute Häuser und Besitztümer, mit denen man nicht rechnet, und Hobbys, die man sich nicht einmal vorstellen kann.
    Mr. Petersons Hobby war das Schreiben von Briefen an Politiker und – gelegentlich – an Gefangene. Er war in einem besonderen Briefklub. Man musste einen monatlichen Mitgliedsbeitrag entrichten und bekam eine Klubzeitschrift zugeschickt, in der die Namen und Adressen von Menschen überall auf der Welt standen, denen man vielleicht schreiben wollte, obwohl die meisten von ihnen niemals antworten würden. Die Politiker waren meistens zu beschäftigt oder kümmerten sich nicht um ihre persönliche Korrespondenz, und den Gefangenen war oft nicht erlaubt, die Briefe zu beantworten. Sie hatten Glück, wenn sie die Briefe überhaupt bekamen. Mr. Petersons Briefklub hieß »Amnesty International«.
    Anfangs hatte ich so meine Zweifel, ob meine Mutter das Briefeschreiben an verurteilte Gefangene für moralisch lehrreich halten würde, aber Mr. Peterson, der durch und durch verrückt war, meinte, das sei es ganz sicher. Er sagte mir, dass die meisten Gefangenen, denen wir schrieben, überhaupt nicht ins Gefängnis hätten kommen dürfen. Es waren gute Menschen, die eingesperrt und ihrer grundlegenden Menschenrechte beraubt worden waren. Es war ihnen nicht gestattet, ihrer Überzeugung entsprechend zu handeln oder selbst ihre Meinung zu äußern, ohne befürchten zu müssen, verfolgt oder misshandelt zu werden – obwohl Mr. Peterson nicht glaubte, dass ich mir vorstellen konnte, wie das war. Ich sagte Mr. Peterson, dass ich mir das sehr wohl vorstellen könne, schließlich ging ich in die Mittelstufe. Und wenn diese Gefangenen zu Unrecht im Gefängnis saßen, ohne fairen Prozess oder wegen Verbrechen, die sie wahrscheinlich nicht begangen hatten, so war das ebenfalls etwas, das ich gut nachvollziehen konnte.
    Ich tippte, was mir Mr. Peterson diktierte, wobei er die Namen und Orte buchstabierte, die mir Probleme bereiteten. Nach einer Weile sagte er, dass mein Tippen wie Hufschläge auf Pflastersteinen klingen würde, und er legte Musik auf. Es war, so erklärte er mir, ein Schuh-Bart-Quintett. Ich hatte keine Ahnung, was das war, und ich fragte auch nicht nach. Aber die Musik war nett; es wurde nicht gesungen, und daher wurde meine Konzentration nicht gestört.
    An diesem Nachmittag schrieben wir fünf oder sechs Briefe. Es sah ganz so aus, als gäbe es eine Menge Menschen auf der Welt, denen man ihre Grundrechte verweigerte.

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